Artikel:Zu den Fragen des Leninismus
J. W. Stalin
Zu den Fragen des Leninismus
vom 25. Januar 1926
(aus: Zu den Fragen des Leninismus, Fischer-Verlag, Frankfurt / Main 1970)
Kapitel 1
Die Definition des Leninismus
Der Leningrader Organisation der KPdSU (B) gewidmet
J. Stalin
In der Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" ist die bekannte Definition des Leninismus gegeben, die offenbar Bürgerrecht erworben hat. Sie lautet:
"Der Leninismus ist der Marxismus in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer: der Leninismus ist die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats im besonderen."
Ist diese Definition richtig?
Ich glaube, daß sie richtig ist. Sie ist erstens richtig, weil sie richtig auf die historischen Wurzeln des Leninismus hinweist, indem sie ihn als den Marxismus der EPOCHE DES IMPERIALISMUS kennzeichnet, im Gegensatz zu gewissen Kritikern Lenins, die irrtümlich glauben, daß der Leninismus nach dem imperialistischen Kriege entstanden sei. Sie ist zweitens richtig, weil sie den internationalen Charakter des Leninismus richtig hervorhebt, im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die der Ansicht ist, der Leninismus sei nur unter den nationalen russischen Verhältnissen anwendbar. Sie ist drittens richtig, weil sie den organischen Zusammenhang des Leninismus mit der Marxschen Lehre richtig hervorhebt, indem sie ihn als den MARXISMUS der Epoche des Imperialismus kennzeichnet, im Gegensatz zu gewissen Kritikern des Leninismus, die diesen nicht für eine Weiterentwicklung des Marxismus halten, sondern nur für eine Wiederherstellung des Marxismus und dessen Anwendung auf die russische Wirklichkeit.
Dies alles bedarf wohl keiner besonderen Kommentare.
Dennoch gibt es, wie es sich herausstellt, in unserer Partei Leute, die es für nötig halten, den Leninismus etwas anders zu definieren. So meint z.B. Sinowjew:
"Der Leninismus ist der Marxismus in der Epoche der imperialistischen Kriege und der Weltrevolution, die UNMITTELBAR IN EINEM LANDE BEGONNEN HAT, IN DEM DIE BAUERNSCHAFT ÜBERWIEGT (1)."
Was können die von Sinowjew hervorgehobenen Worte bedeuten? Was bedeutet es, wenn man in die Definition des Leninismus die Rückständigkeit Rußlands, dessen bäuerlichen Charakter, aufnimmt?
Das bedeutet, daß man den Leninismus aus einer internationalen proletarischen Lehre in ein Produkt spezifisch russischer Verhältnisse verwandelt.
Das bedeutet, daß man Bauer und Kautsky, die die Tauglichkeit des Leninismus für andere, kapitalistisch entwickeltere Länder leugnen, in die Hand arbeitet.
Es erübrigt sich zu sagen, daß die Bauernfrage für Rußland größte Bedeutung hat, daß unser Land ein Bauernland ist. Aber welche Bedeutung kann diese Tatsache für die Charakteristik der Grundlagen des Leninismus haben? Erfolgte etwa die Ausarbeitung des Leninismus nur auf dem Boden Rußlands und nur für Rußland und nicht auf dem Boden des Imperialismus und für die imperialistischen Länder überhaupt? Haben etwa Werke Lenins wie "Der Imperialismus", "Staat und Revolution", "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky", "Die Kinderkrankheit des 'Radikalismus' " usw. nur für Rußland Bedeutung und nicht für alle imperialistischen Länder überhaupt? Ist etwa der Leninismus nicht die Zusammenfassung der Erfahrungen der revolutionären Bewegung ALLER Länder? Sind etwa die Grundlagen der Theorie und Taktik des Leninismus nicht für die proletarischen Parteien ALLER Länder geeignet und obligatorisch? Hatte Lenin etwa nicht recht, als er sagte, "daß sich der Bolschewismus als Vorbild der Taktik FÜR ALLE (2) eignet" ? (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXIII, S. 499.) Hatte Lenin etwa nicht recht, als er von der "INTERNATIONALEN BEDEUTUNG (3) der Sowjetmacht und der Grundlagen der bolschewistischen Theorie und Taktik" sprach ? (Lenin, Ausgew. Werke, Band 10, S. 55.) Sind etwa z.B. die folgenden Worte Lenins nicht richtig:
"In Rußland muß sich die Diktatur des Proletariats infolge der sehr großen Rückständigkeit und des kleinbürgerlichen Charakters unseres Landes unvermeidlich durch gewisse Besonderheiten im Vergleich mit den fortgeschrittenen Ländern unterscheiden. Aber die Hauptkräfte - und die Hauptformen der gesellschaftlichen Produktion - sind in Rußland die gleichen wie in jedem beliebigen kapitalistischen Lande, so daß DIESE BESONDERHEITEN KEINESWEGS DAS ALLERWICHTIGSTE BETREFFEN KÖNNEN." (Lenin, Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 508 russ.)
Aber, wenn das alles richtig ist, folgt nicht daraus, daß die von Sinowjew gegebene Definition des Leninismus nicht als richtig anzusehen ist? Wie ist diese national-beschränkte Definition des Leninismus mit dem Internationalismus zu vereinbaren?
Fußnoten:
1. Von Sinowjew hervorgehoben. J. St.
2. Von Sinowjew hervorgehoben. J. St.
3. Von mir hervorgehoben. J. St.
Kapitel 2
Das Wichtigste im Leninismus
In der Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" heißt es:
"Manche glauben, daß das Grundlegende im Leninismus die Bauernfrage sei, daß die Frage der Bauernschaft, ihrer Rolle, ihrer Bedeutung den Ausgangspunkt des Leninismus bilde. Das ist vollkommen unrichtig. Die Hauptfrage im Leninismus, sein Ausgangspunkt ist nicht die Bauernfrage, sondern die Frage der Diktatur des Proletariats, der Bedingungen ihrer Eroberung, der Bedingungen ihrer Festigung. Die Bauernfrage als die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats in seinem Kampfe um die Macht ist eine abgeleitete Frage."
Ist dieser Leitsatz richtig?
Ich glaube, ja. Dieser Leitsatz ergibt sich völlig aus der Definition des Leninismus. In der Tat, wenn der Leninismus die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution ist und die Diktatur des Proletariats den Hauptinhalt der proletarischen Revolution bildet, so ist es klar, daß das Wichtigste im Leninismus in der Frage der Diktatur des Proletariats besteht, in der Ausarbeitung, in der Begründung und der Konkretisierung dieser Frage.
Dennoch ist Sinowjew mit diesem Leitsatz offenbar nicht einverstanden. In seinem Artikel: "Lenin zum Gedächtnis", sagt er:
"Die Frage der Bauernschaft ist, wie ich schon sagte, die HAUPTFRAGE (1) des Bolschewismus, des Leninismus."
Dieser Satz Sinowjews ergibt sich, wie man sieht, gänzlich aus der von ihm aufgestellten unrichtigen Definition des Leninismus. Deshalb ist er ebenso falsch, wie seine Definition des Leninismus falsch ist.
Ist die These, daß die Diktatur des Proletariats der "Wesensinhalt der proletarischen Revolution" ist (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXIII, S. 427), richtig? Gewiß ist sie richtig. Ist die These, daß der Leninismus die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution ist, richtig? Ich glaube, ja. Was folgt aber daraus? Daraus folgt, daß die Hauptfrage des Leninismus, sein Ausgangspunkt, sein Fundament die Frage der Diktatur des Proletariats ist.
Ist es etwa nicht richtig, daß die Frage des Imperialismus, die Frage des sprunghaften Charakters der Entwicklung des Imperialismus, die Frage des Sieges des Sozialismus in EINEM Lande, die Frage des Staates des Proletariats, die Frage der Sowjetform dieses Staates, die Frage der Rolle der Partei im System der Diktatur des Proletariats, die Frage nach den Wegen des Aufbaus des Sozialismus - daß alle diese Fragen gerade von Lenin ausgearbeitet wurden? Ist es etwa nicht richtig, daß gerade diese Fragen die Grundlage, das Fundament der Idee der Diktatur des Proletariats bilden? Ist es etwa nicht richtig, daß ohne die Ausarbeitung dieser Hauptfragen die Ausarbeitung der Bauernfrage vom Standpunkt der Diktatur des Proletariats undenkbar wäre?
Gewiß war Lenin ein Kenner der Bauernfrage. Gewiß hat die Bauernfrage als die Frage nach dem Verbündeten des Proletariats größte Bedeutung für das Proletariat und ist ein Bestandteil der Hauptfrage, der Frage der Diktatur des Proletariats. Aber ist denn nicht klar: stünde vor dem Leninismus nicht die Hauptfrage, die Frage der Diktatur des Proletariats, dann gäbe es auch nicht die abgeleitete Frage nach dem Verbündeten des Proletariats, die Frage der Bauernschaft? Ist es etwa nicht klar: stünde vor dem Leninismus nicht die praktische Frage der Eroberung der Macht durch das Proletariat, dann gäbe es auch keine Frage des Bündnisses mit der Bauernschaft?
Lenin wäre nicht der gewaltige proletarische Ideologe, der er zweifellos ist, er wäre ein einfacher "Bauernphilosoph", als den ihn nicht selten ausländische literarische Spießer darstellen, wenn er die Bauernfrage nicht auf der Basis der Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariats ausgearbeitet hätte, sondern abseits von dieser Basis, außerhalb dieser Basis.
Eins von beiden:
ENTWEDER ist die Bauernfrage das Wichtigste im Leninismus, und dann ist der Leninismus ungeeignet, nicht obligatorisch für die kapitalistisch entwickelten Länder, für die Länder, die nicht Bauernländer sind;
ODER das Wichtigste im Leninismus ist die Dikatatur des Proletariats, und dann ist der Leninismus die internationale Lehre der Proletarier aller Länder, geeignet und obligatorisch für alle Länder ohne Ausnahme, darunter auch für die kapitalistisch entwickelten Länder.
Hier gilt es, die Wahl zu treffen.
Fußnoten:
1. Von mir hervorgehoben. J. St.
Kapitel 3
Die Frage der "permanenten" Revolution
In der Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" wird die "Theorie der permanenten Revolution" als "Theorie" der Unterschätzung der Rolle der Bauernschaft bewertet. Dort heißt es:
"Lenin kämpfte also gegen die Anhänger der 'permanenten' Revolution nicht wegen der Frage der Permanenz, denn Lenin selbst stand auf dem Standpunkt der ununterbrochenen Revolution, sondern weil sie die Rolle der Bauernschaft unterschätzten, die eine gewaltige Reserve des Proletariats bildet."
Diese Charakteristik der russischen "Permanenzler" galt bis in die letzte Zeit hinein als allgemein anerkannt. Dennoch kann sie, obwohl im allgemeinen richtig, nicht als erschöpfend betrachtet werden. Die Diskussion von 1924 einerseits und eine sorgfältige Analyse der Werke Lenins andererseits zeigten, daß der Fehler der russischen "Permanenzler" nicht nur in der Unterschätzung der Rolle der Bauernschaft bestand, sondern auch in der Unterschätzung der Kräfte und der Fähigkeiten des Proletariats, die Bauernschaft zu führen, im Unglauben an die Idee der Hegemonie des Proletariats.
Deshalb habe ich in meiner Broschüre "Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten" (Dezember 1924) diese Charakteristik erweitert und sie durch eine andere, vollständigere ersetzt. Darüber wird in dieser Broschüre gesagt:
"Bisher wurde gewöhnlich EINE Seite der Theorie der 'permanenten Revolution' betont - der Unglaube an die revolutionären Möglichkeiten der Bauernbewegung. Jetzt muß, der Gerechtigkeit halber, diese Seite durch eine ANDERE Seite ergänzt werden - durch den Unglauben an die Kräfte und Fähigkeiten des Proletariats Rußlands."
Das bedeutet natürlich nicht, daß der Leninismus gegen die Idee der permanenten Revolution, ohne Gänsefüßchen, wie sie von Marx in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verkündet wurde, war oder ist. Im Gegenteil. Lenin war der einzige Marxist, der die Idee der permanenten Revolution richtig verstanden und entwickelt hat. Lenin unterscheidet sich in dieser Frage von den "Permanenzlern" darin, daß die "Permanenzler" die Marxsche Idee der permanenten Revolution entstellten, indem sie sie in eine leblose Bücherweisheit verwandelten, während Lenin sie in ihrer reinen Gestalt nahm und zu einer der Grundlagen seiner Theorie der Revolution machte. Man muß bedenken, daß die Idee des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution, wie wie von Lenin bereits im Jahre 1905 entwickelt wurde, eine der Formen der Verkörperung der Marxschen Theorie der permanenten Revolution ist. Darüber schrieb Lenin bereits im Jahre 1905:
"Von der demokratischen Revolution werden wir sofort, und zwar nach Maßgabe unserer Kraft, der Kraft des klassenbewußten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution beginnen. WIR SIND FÜR DIE UNUNTERBROCHENE REVOLUTION. Wir werden nicht auf halben Wege stehenbleiben ...
Ohne in Abenteurertum zu verfallen, ohne unserem wissenschaftlichen Gewissen untreu zu werden, ohne nach billiger Popularität zu haschen, können wir sagen und sagen wir NUR DAS EINE: wir werden mit allen Kräften der gesamten Bauernschaft helfen, die demokratische Revolution zu vollbringen, DAMIT es uns, der Partei des Proletariats, UM SO LEICHTER MÖGLICH SEI, möglichst rasch zu einer neuen und höheren Aufgabe, zur sozialistischen Revolution, überzugehen." (Lenin, Ausgew. Werke, Band 3, Seite 138.)
Und sechzehn Jahre später, nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat, schreibt Lenin über dieses Thema:
"Die Kautsky, Hilferding, Martow, Tschernow, Hillquit, Longuet, MacDonald, Turati und sonstigen Helden des 'zweieinhalbten' Marxismus vermochten nicht, ... das Wechselverhältnis zwischen der bürgerlich-demokratischen und der proletarisch-sozialistischen Revolution zu verstehen. DIE ERSTE WÄCHST IN DIE ZWEITE HINÜBER (1). Die zweite löst im Vorbeigehen die Frage der ersten. Die zweite verankert das Werk der ersten. Der Kampf, und nur der Kampf entscheidet, wie weit es der zweiten gelingt, über die erste hinauszuwachsen." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 6, S. 514.)
Ich verweise besonders auf das erste Zitat, das dem Artikel Lenins "Die Stellung der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung" entnommen ist, der am 1. (14.) September 1905 veröffentlicht wurde. Ich betone das zur Kenntnisnahme für diejenigen, die noch immer behaupten, Lenin sei erst nach dem Ausbruch des imperialistischen Krieges, ungefähr im Jahre 1916, zur Idee des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution, zur Idee der permanenten Revolution gelangt. Dieses Zitat läßt keinen Zweifel darüber, daß diese Leute in einem tiefen Irrtum befangen sind.
Fußnoten:
1. Von mir hervorgehoben. J. St.
Kapitel 4
Die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats
Worin bestehen die charakteristischen Züge der proletarischen Revolution zum Unterschied von der bürgerlichen Revolution?
Den Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Revolution könnte man in fünf Hauptpunkten zusammenfassen:
Die bürgerliche Revolution beginnt gewöhnlich, wenn mehr oder weniger fertige Formen der kapitalistischen Ordnung vorhanden sind, die schon vor der offenen Revolution im Schoße der feudalen Gesellschaft herangewachsen und ausgereift sind, während bei Beginn der proletarischen Revolution fertige Formen des sozialistischen Systems fehlen oder fast fehlen. Die Hauptaufgabe der bürgerlichen Revolution besteht darin, die Macht zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomik in Einklang zu bringen, während die Hauptaufgabe der proletarischen Revolution darin besteht, nach der Machtergreifung eine neue, die sozialistische Ökonomik aufzubauen. Die bürgerliche Revolution wird gewöhnlich mit der Machtergreifung ABGESCHLOSSEN, während die Machtergreifung in der proletarischen Revolution bloß deren Anfang bildet, wobei die Macht als Hebel für den Umbau der alten Ökonomik und die Organisierung der neuen benutzt wird. Die bügerliche Revolution beschränkt sich darauf, die Herrschaft einer Ausbeutergruppe durch die einer anderen Ausbeutergruppe zu ersetzen, und bedarf deshalb nicht der Zertrümmerung der alten Staatsmaschine, während die proletarische Revolution alle und jede Ausbeutergruppen von der Macht verdrängt und den Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten, die Klasse der Proletarier, an die Macht bringt, weshalb sie nicht ohne die Zertrümmerung der alten Staatsmaschine und deren Ersetzung durch eine neue auskommen kann. Die bürgerliche Revolution kann die Millionenmassen der Werktätigen und Ausgebeuteten nicht für eine einigermaßen lange Periode mit der Bourgeoisie zusammenschließen, und zwar deshalb nicht, weil sie Werktätige und Ausgebeutete sind, während die proletarische Revolution sie gerade als Werktätige und Ausgebeutete mit dem Proletariat zu einem dauernden Bund vereinigen kann und muß, wenn sie ihre Hauptaufgabe, die Festigung der Macht des Proletariats und die Errichtung der neuen, der sozialistischen Ökonomik, erfüllen will. Nachstehend einige grundlegende Thesen Lenins darüber:
"Einer der Hauptunterschiede", sagt Lenin, "zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Revolution besteht darin, daß für die bürgerliche Revolution, die aus dem Feudalismus hervorwächst, im Schoße der alten Ordnung die neuen Wirtschaftsorganisationen allmählich entstehen, die nach und nach alle Seiten der feudalen Gesellschaft ändern. Die bürgerliche Revolution stand nur vor EINER Aufgabe: alle Fesseln der früheren Gesellschaft hinwegzufegen, beiseitezuwerfen, zu zerstören. Jede bürgerliche Revolution, die diese Aufgabe erfüllt, erfüllt alles, was von ihr verlangt wird: sie stärkt das Wachstum des Kapitalismus. In einer ganz anderen Lage befindet sich die sozialistische Revolution. Je rückständiger das Land ist, das, infolge der Zickzackbewegung der Geschichte, die Revolution beginnen mußte, desto schwieriger ist für dieses Land der Übergang von den alten kapitalistischen Verhältnissen zu sozialistischen. Hier kommen zu den Aufgaben der Zerstörung neue, unerhört schwierige organisatorische Aufgaben hinzu." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 7, S. 288.)
"Wenn die Schöpferkraft des Volkes", fährt Lenin fort, "in der russischen Revolution, eine Kraft, die die große Erfahrung des Jahres 1905 durchgemacht hat, nicht schon im Februar 1917 Sowjets geschaffen hätte, so hätten sie auf keinen Fall vermocht, im Oktober die Macht zu ergreifen, denn der Erfolg hing lediglich davon ab, ob bereits fertige Organisationsformen der Bewegung vorhanden waren, die Millionen umfaßte. Diese fertige Form waren die Sowjets, und deshalb erwarteten uns auf politischem Gebiet jene glänzenden Erfolge, jener ununterbrochene Triumphzug, den wir erlebten, denn die neue Form der politischen Macht war da, und wir brauchten nur mit einigen Dekreten die Sowjetmacht aus dem Embryonalzustand, in dem sie sich in den ersten Monaten der Revolution befand, zur gesetzlich anerkannten Form zu machen, die im Russischen Staat - in der Russischen Sowjetrepublik feste Gestalt erhalten hat." (Ebenda, S. 288/289.)
"Es blieben", sagt Lenin, "noch zwei ungeheuer schwierige Aufgaben, deren Lösung auf keinen Fall ein Triumphzug sein konnte, wie ihn unsere Revolution in den ersten Monaten erlebte." (Ebenda S. 289.)
"Erstens waren das die Aufgaben der inneren Organisation, vor denen jede sozialistische Revolution steht. Der Unterschied zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Revolution besteht gerade darin, daß die bürgerliche Revolution die fertigen Formen der kapitalistischen Verhältnisse vorfindet, während die Sowjetmacht, die proletarische Macht, diese fertigen Verhältnisse nicht vorfindet, abgesehen von den entwickeltsten Formen des Kapitalismus, die im Grunde genommen nur unbedeutende Spitzen der Industrien erfaßt und die Landwirtschaft erst ganz wenig berührt haben. Die Organisierung der Rechnungsführung, die Kontrolle über die Großbetriebe, die Umwandlung des ganzen staatlichen Wirtschaftsmechanismus in eine einzige große Maschine, in einen Wirtschaftsorganismus, der so arbeitet, daß sich hunderte Millionen Menschen von einem einzigen Plan leiten lassen - das ist die gigantische organisatorische Aufgabe, die uns zugefallen ist. Unter den jetzigen Arbeitsbedingungen ist eine Bewältigung dieser Aufgabe im Sturmlaufen, in der Art, wie wir die Aufgaben des Bürgerkrieges zu lösen vermochten, in keiner Weise möglich." (Ebenda, S. 289/290.)
"Die zweite ungeheure Schwierigkeit ... ist die internationale Frage. Wenn wir mit den Banden Kerenskis so leicht fertig wurden, wenn wir so leicht eine Staatsmacht bei uns schufen, wenn wir ohne die geringste Mühe das Dekret über die Sozialisierung des Bodens, über die Arbeiterkontrolle bekamen, wenn wir das alles so leicht erzielten, so war das nur möglich, weil eine günstige Gestaltung der Verhältnisse uns für einen kurzen Augenblick vor dem internationalen Imperialismus schützte. Der internationale Imperialismus mit der ganzen Macht seines Kapitals, mit seiner hochorganisierten militärischen Technik, die eine wirkliche Macht, eine wirkliche Festung des internationalen Kapitals darstellt, konnte sich auf keinen Fall, unter keinen Umständen mit der Sowjetrepublik vertragen, sowohl infolge seiner objektiven Lage als auch infolge der ökonomischen Interessen der Kapitalistenklasse, die in ihm verkörpert war, er konnte es nicht wegen der Handelsverbindungen, der internationalen Finanzbeziehungen. Hier ist ein Konflikt unvermeidlich. Hier haben wir die größte Schwierigkeit der russischen Revolution, ihr größtes historisches Problem: die Notwendigkeit, die internationalen Aufgaben zu lösen, die Notwendigkeit, die internationale Revolution auszulösen." (Ebenda S. 291.)
Das ist der innere Charakter und der grundlegende Sinn der proletarischen Revolution.
Kann man eine so radikale Umgestaltung der alten, der bürgerlichen Verhältnisse ohne eine gewaltsame Revolution, ohne die Diktatur des Proletariats bewerkstelligen?
Es ist klar, daß man das nicht glauben kann. Zu glauben, daß man eine solche Revolution friedlich, im Rahmen der bürgerlichen Demokratie, die der Herrschaft der Bourgeoisie angepaßt ist, durchführen kann, bedeutet, entweder den Verstand verloren und die normalen menschlichen Begriffe eingebüßt zu haben oder sich in grober Weise und offen von der proletarischen Revolution loszusagen.
Diese Feststellung muß mit um so größerem Nachdruck und um so größerer Entschiedenheit betont werden, als wir es mit einer proletarischen Revolution zu tun haben, die vorläufig in einem Lande gesiegt hat, das von feindlichen kapitalistischen Ländern umgeben ist und dessen Bourgeoisie vom internationalen Kapital unvermeidlich unterstützt werden wird.
Deshalb sagt Lenin, daß "die Befreiung der unterdrückten Klasse nicht nur ohne gewaltsame Revolution unmöglich ist, SONDERN AUCH OHNE VERNICHTUNG des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt". (Lenin, Staat und Revolution, S. 4.)
" 'Möge sich zuerst, bei Aufrechterhaltung des Privateigentums, d.h. bei Aufrechterhaltung der Macht und des Jochs des Kapitals, die Mehrheit der Bevölkerung für die Partei des Proletariats aussprechen - dann erst kann und darf sie die Macht übernehmen', SAGEN DIE KLEINBÜRGERLICHEN DEMOKRATEN, DIE FAKTISCHEN LAKAIEN DER BOURGEOISIE, DIE SICH 'SOZIALISTEN' NENNEN." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 6, S. 493.)
" 'Möge zuerst das revolutionäre Proletariat die Bourgeoisie stürzen, das Joch des Kapitals abschütteln, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen - dann wird das siegreiche Proletariat rasch die Sympathien und die Unterstützung der Mehrheit der werktätigen nichtproletarischen Massen für sich gewinnen können, indem es sie auf Kosten der Ausbeuter zufriedenstellt' - SAGEN WIR (1)." (Ebenda)
"Um die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen", führt Lenin weiter aus, "muß das Proletariat erstens die Bourgeoisie stürzen, und die Staatsmacht erobern; es muß zweitens die Sowjetmacht einführen, indem es den alten Staatsapparat in Trümmer schlägt, wodurch es sofort die Herrschaft, die Autorität, den Einfluß der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Paktierer unter den nichtproletarischen werktätigen Massen untergräbt. Es muß drittens den Einfluß der Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Paktierer unter der MEHRHEIT der nichtproletarischen werktätigen Massen durch REVOLUTIONÄRE Befriedigung IHRER ökonomischen Bedürfnisse auf KOSTEN DER AUSBEUTER endgültig vernichten." (Ebenda S. 486.)
Das sind die charakteristischen Merkmale der proletarischen Revolution.
Welches sind im Zusammenhang damit die Grundzüge der Diktatur des Proletariats, wenn anerkannt wird, daß die Diktatur des Proletariats den Hauptinhalt der proletarischen Revolution bildet?
Nachstehend die allgemeinste Definition der Diktatur des Proletariats, wie sie von Lenin gegeben wurde:
"Die Diktatur des Proletariats ist nicht die Beendigung des Klassenkampfes, sondern seine Fortführung in neuen Formen. Die Diktatur des Proletariats ist der Klassenkampf des Proletariats, das gesiegt und die politische Macht erobert hat, gegen die Bourgeoisie, die zwar besiegt, aber nicht vernichtet, nicht verschwunden ist, nicht aufgehört hat, Widerstand zu leisten, gegen die Bourgeoisie, die ihren Widerstand verstärkt hat." (Lenin, Vorwort zu: Wie das Volk mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 311 russ.)
Lenin wendet sich gegen die Verwechslung der Diktatur des Proletariats mit der "vom gesamten Volk ausgehenden", "aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden", "klassenlosen" Macht und sagt:
"Die Klasse, die die politische Herrschaft erobert hat, tut das in dem Bewußtsein, daß sie sie ALLEIN übernimmt. Das ist im Begriff der Diktatur des Proletariats enthalten. Dieser Begriff hat nur dann einen Sinn, wenn die Klasse weiß, daß sie allein die politische Macht in die Hand nimmt und weder sich selbst noch die anderen durch ein Gerede über die 'vom gesamten Volk ausgehende, aus allgemeinen Wahlen hervorgehende, vom ganzen Volk geheiligte' Macht betrügt." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 354.)
Das bedeutet jedoch nicht, daß die Macht EINER Klasse, der Klasse der Proletarier, die die Macht mit anderen Klassen nicht teilt und nicht teilen kann, zur Verwirklichung ihrer Ziele nicht der Hilfe, des Bündnisses mit den werktätigen und ausgebeuteten Massen anderer Klassen bedarf. Im Gegenteil. Diese Macht, die Macht EINER Klasse, kann nur durch eine besondere Form des Bündnisses zwischen der Klasse der Proletarier und den werktätigen Massen der kleinbürgerlichen Klassen, vor allem den werktätigen Massen der Bauernschaft, errichtet und bis zu Ende verwirklicht werden.
Was ist das für eine besondere Form des Bündnisses, worin besteht sie? Widerspricht dieses Bündnis mit den werktätigen Massen anderer, nichtproletarischer Klassen nicht überhaupt der Idee der Diktatur einer Klasse?
Diese besondere Form des Bündnisses besteht darin, daß die führende Kraft dieses Bündnisses das Proletariat ist. Diese besondere Form des Bündnisses besteht darin, daß der Führer des Staates, der Führer im System der Diktatur des Proletariats EINE Partei ist, die Partei des Proletariats, die Partei der Kommunisten, die die Führung mit anderen Parteien NICHT TEILT UND NICHT TEILEN KANN.
Wie man sieht, ist der Widerspruch hier nur ein vermeintlicher, ein scheinbarer.
"Die Diktatur des Proletariats", sagt Lenin, "ist eine BESONDERE FORM DES KLASSENBÜNDNISSES (2) zwischen dem Proletariat, der Avantgarde der Werktätigen, und den zahlreichen nichtproletarischen Schichten der Werktätigen (Kleinbürgertum, Kleineigentümer, Bauernschaft, Intelligenz usw.), oder deren Mehrheit, eines Bündnisses gegen das Kapital, eines Bündnisses zum Zwecke des völligen Sturzes des Kapitals, der völligen Unterdrückung des Widerstandes der Bourgeoisie und ihrer Restaurationsversuche, eines Bündnisses zum Zwecke der endgültigen Errichtung und Festigung des Sozialismus. Das ist ein Bündnis besonderer Art, das sich in einer besonderen Situation herausbildet, nämlich in der Situation eines wütenden Bürgerkrieges; das ist ein Bündnis der festen Anhänger des Sozialismus mit dessen schwankenden Verbündeten, manchmal mit 'Neutralen' (dann wird das Bündnis aus einem Kampfabkommen ein Neutralitätsabkommen), ein BÜNDNIS ZWISCHEN ÖKONOMISCH, POLITISCH, SOZIAL, GEISTIG UNGLEICHARTIGEN KLASSEN." (Lenin, Vorwort zu: Wie das Volk mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 311 russ.)
In einem seiner Instruktionsreferate sagt Kamenev, gegen diese Auffassung von der Diktatur des Proletariats polemisierend:
"Die Diktatur ist KEIN (3) Bündnis einer Klasse mit einer anderen."
Ich glaube, daß Kamenev hier vor allem eine Stelle aus meiner Schrift "Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten" im Auge hat, wo es heißt:
"Die Diktatur des Proletariats ist keine einfache Regierungsspitze, die von der sorgsamen Hand eines 'erfahrenen Strategen' 'geschickt' 'ausgewählt' wurde und sich auf diese oder jene Schichten der Bevölkerung 'vernünftig stützt'. Die Diktatur des Proletariats ist ein Klassenbündnis des Proletariats und der werktätigen Massen der Bauernschaft zum Sturze des Kapitals, zum endgültigen Sieg des Sozialismus, unter der Bedingung, daß die führende Kraft in diesem Bündnis das Proletariat ist."
Ich stehe vollständig zu dieser Formulierung der Diktatur des Proletariats, denn ich glaube, daß sie mit der eben angeführten Formulierung Lenins völlig übereinstimmt.
Ich behaupte, daß die Erklärung Kamenevs, daß "die Diktatur des Proletariats KEIN Bündnis einer Klasse mit einer anderen " sei, in dieser vorbehaltlosen Form gegeben, mit der Leninschen Theorie der Diktatur des Proletariats nichts gemein hat.
Ich behaupte, daß so nur Leute sprechen können, die den Sinn der Idee des Zusammenschlusses, der Idee des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft, der Idee der HEGEMONIE des Proletariats in diesem Bündnis nicht begriffen haben.
So können nur Leute sprechen, die die folgende Leninsche These nicht verstanden haben:
"NUR EINE VERSTÄNDIGUNG MIT DER BAUERNSCHAFT kann die sozialistische Revolution in Rußland retten, solange die Revolution in den anderen Ländern nicht eingetreten ist." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 294.)
So können nur Leute sprechen, die den folgenden Leitsatz Lenins nicht begriffen haben:
"DAS HÖCHSTE PRINZIP DER DIKTATUR ist die Wahrung des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft, damit das Proletariat die leitende Rolle und die Staatsmacht behaupten könne." (Ebenda S. 568.)
Lenin hebt eines der wichtigsten Ziele der Diktatur, die Unterdrückung der Ausbeuter, hervor und sagt:
"Der wissenschaftliche Begriff der Diktatur bedeutet nichts anderes als die durch nichts eingeschränkte, durch keinerlei Gesetze, absolut durch keinerlei Regel gehemmte, sich unmittelbar auf die Gewalt stützende Macht" ... "Die Diktatur bedeutet - nehmt das ein für allemal zur Kenntnis, ihr Herren Kadetten - die uneingeschränkte, sich auf die Gewalt und nicht auf das Gesetz stützende Macht. Während des Bürgerkrieges kann jede Macht, die den Sieg errungen hat, nur eine Diktatur sein." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXV, S. 549 und 522.)
Aber die Diktatur des Proletariats erschöpft sich natürlich nicht in der Gewalt, obwohl es keine Diktatur ohne Gewalt gibt.
"Die Diktatur", sagt Lenin, "bedeutet nicht nur Gewalt, obwohl sie ohne Gewalt unmöglich ist, sie bedeutet auch eine Organisation der Arbeit, und zwar eine höhere, als es die vorhergehende war." (Rede Lenins, Wie das Volk mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 305 russ.)
"Die Diktatur des Proletariats ... ist nicht bloß Gewalt gegenüber den Ausbeutern, und sogar nicht einmal hauptsächlich Gewalt. Die ökonomische Grundlage dieser revolutionären Gewalt, die Bürgschaft ihrer Lebensfähigkeit und ihres Erfolges besteht darin, daß das Proletariat einen höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit im Vergleich zum Kapitalismus repräsentiert und verwirklicht. Das ist das Wesentliche. Darin liegt die Quelle der Kraft und die Bürgschaft für den unausbleiblichen vollen Sieg des Kommunismus." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 9, S. 467.) "Ihr (der Diktatur J. St.) Hauptwesen besteht in der Organisation und Disziplin der fortgeschrittensten Abteilung der Werktätigen, ihrer Avantgarde, ihres einzigen Führers, des Proletariats. Sein Ziel ist, den Sozialismus zu schaffen, die Teilung der Gesellschaft in Klassen aufzuheben, alle Mitglieder der Gesellschaft zu Werktätigen zu machen, jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen den Boden zu entziehen. Dieses Ziel kann nicht auf einmal verwirklicht werden, es erfordert eine ziemlich lange Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, einmal deshalb, weil die Neuorganisation der Produktion eine schwierige Sache ist, dann auch deshalb, weil man für radikale Änderungen auf allen Gebieten des Lebens Zeit braucht, und schließlich deshalb, weil die gewaltige Macht der Gewöhnung an kleinbürgerliches und bürgerliches Wirtschaften nur in langem, beharrlichem Kampfe überwunden werden kann. Deshalb spricht auch Marx von einer ganzen Periode der Diktatur des Proletariats als der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus." (Lenin, Gruß an die ungarischen Arbeiter, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 314 russ.)
Das sind die charakteristischen Züge der Diktatur des Proletariats.
Daraus ergeben sich drei grundlegende Seiten der Diktatur des Proletariats:
Die Macht des Proletariats wird ausgenutzt zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur Verteidigung des Landes, zur Festigung der Verbindungen mit den Proletariern der anderen Länder, zur Entfaltung und zum Sieg der Revolution in allen Ländern. Die Macht des Proletariats wird ausgenutzt zur endgültigen Loslösung der werktätigen und ausgebeuteten Massen von der Bourgeoisie, zur Festigung des Bündnisses des Proletariats mit diesen Massen, zur Einbeziehung dieser Massen in den sozialistischen Aufbau, zur staatlichen Leitung dieser Massen durch das Proletariat. Die Macht des Proletariats wird ausgenutzt zur Organisierung des Sozialismus, zur Aufhebung der Klassen, zum Übergang in eine Gesellschaft ohne Klassen, in eine Gesellschaft ohne Staat. Die proletarische Diktatur ist die Vereinigung aller dieser drei Seiten. Keine dieser Seiten kann als das EINZIGE charakteristische Merkmal der Diktatur des Proletariats hingestellt werden, und umgekehrt, das Fehlen auch nur eines dieser drei Merkmale genügt, damit die Diktatur des Proletariats angesichts der kapitalistischen Umwelt aufhört, eine Diktatur zu sein. Deshalb darf keine dieser drei Seiten ausgeschaltet werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, den Begriff der Diktatur des Proletariats zu entstellen. Nur alle diese drei Seiten zusammengenommen geben uns einen vollständigen und abgeschlossenen Begriff von der Diktatur des Proletariats.
Die Diktatur des Proletariats hat ihre Perioden, ihre besonderen Formen, ihre verschiedenartigen Arbeitsmethoden. In der Periode des Bürgerkrieges ist das Merkmal der Gewalt in der Diktatur besonders augenfällig. Aber daraus folgt keineswegs, daß in der Periode des Bürgerkrieges keine Aufbauarbeit geleistet wird. Ohne Aufbauarbeit ist es unmöglich, den Bürgerkrieg zu führen. In der Periode des Aufbaus des Sozialismus ist umgekehrt die friedliche, organisatorische, kulturelle Arbeit der Diktatur, die revolutionäre Gesetzlichkeit usw. besonders augenfällig. Aber daraus folgt wiederum keineswegs, daß das Merkmal der Gewalt in der Diktatur während der Periode des Aufbaus wegfällt oder wegfallen kann. Die Organe der Unterdrückung, die Armee und andere Organisationen sind jetzt, in der Zeit des Aufbaus, nicht minder notwendig als in der Zeit des Bürgerkrieges. Ohne das Vorhandensein dieser Organe ist keine einigermaßen gesicherte Aufbauarbeit der Diktatur möglich. Man darf nicht vergessen, daß die Revolution vorläufig nur in EINEM Lande gesiegt hat. Man darf nicht vergessen, daß, solange es eine kapitalistische Umwelt gibt, auch die Gefahr der Intervention mit allen sich aus dieser Gefahr ergebenden Folgen bestehen wird.
Fußnoten:
1. Von mir hervorgehoben. J. St.
2. Von mir hervorgehoben. J. St.
3. Von mir hervorgehoben. J. St.
Kapitel 5
Partei und Arbeiterklasse im System der Diktatur des Proletariats
Oben sprach ich von der Diktatur des Proletariats vom Standpunkt ihrer historischen Unvermeidlichkeit, vom Standpunkt ihres Klasseninhalts, vom Standpunkt ihres staatlichen Charakters, schließlich vom Standpunkt ihrer destruktiven und konstruktiven Aufgaben, die im Verlaufe einer ganzen historischen Periode zu erfüllen sind, die als die Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus bezeichnet wird.
Jetzt müssen wir über die Diktatur des Proletariats vom Standpunkt ihres Aufbaus, vom Standpunkt ihres "Mechanismus", vom Standpunkt der Rolle und Bedeutung jener "Transmissionen", "Hebel" und "lenkenden Kraft" sprechen, die in ihrer Gesamtheit das "System der Diktatur des Proletariats" (Lenin) ergeben, und mit deren Hilfe die alltägliche Arbeit der Diktatur des Proletariats geleistet wird.
Was sind das für "Transmissionen" oder "Hebel" im System der Diktatur des Proletariats? Was ist das für eine "lenkende Kraft"? Wozu braucht man sie?
Die Hebel oder Transmissionen - das sind jene Massenorganisationen des Proletariats, ohne deren Hilfe die Verwirklichung der Diktatur unmöglich ist.
Die lenkende Kraft - das ist die fortgeschrittenste Abteilung des Proletariats, seine Avantgarde, die die grundlegende führende Kraft der Diktatur des Proletariats ist.
Diese Transmissionen, diese Hebel und diese lenkende Kraft hat das Proletariat nötig, weil es sich ohne sie in seinem Kampfe um den Sieg in der Lage einer unbewaffneten Armee angesichts des organisierten und bewaffneten Kapitals erweisen würde. Diese Organisationen hat das Proletariat nötig, weil es ohne sie in seinem Kampfe für den Sturz der Bourgeoisie, in seinem Kampfe für die Befestigung seiner Macht, in seinem Kampfe für den Aufbau des Sozialismus unweigerlich eine Niederlage erleiden würde. Die systematische Hilfe dieser Organisationen und die lenkende Kraft der Avantgarde sind notwendig, weil ohne diese Bedingungen eine einigermaßen dauernde und feste Diktatur des Proletariats unmöglich wäre.
Was sind das für Organisationen?
Es sind dies erstens die Gewerkschaften der Arbeiter mit ihren Verzweigungen in der Hauptstadt und in der Provinz in Gestalt einer ganzen Reihe von Produktions-, kulturellen, erzieherischen und anderen Organisationen. Sie vereinigen die Arbeiter aller Berufe. Es sind dies keine Parteiorganisationen. Die Gewerkschaften kann man als die allumfassende Organisation der bei uns herrschenden Arbeiterklasse bezeichnen. Sie sind die Schule des Kommunismus. Sie stellen aus ihrer Mitte die besten Leute für die leitende Arbeit in allen Verwaltungszweigen. Sie verwirklichen die Verbindung zwischen den fortgeschrittenen und den zurückgebliebenen Elementen innerhalb der Arbeiterklasse. Sie verbinden die Arbeitermassen mit der Avantgarde der Arbeiterklasse.
Es sind dies zweitens die Sowjets mit ihren zahlreichen Verzweigungen in der Hauptstadt und in der Provinz in Gestalt administrativer, wirtschaftlicher, militärischer, kultureller und anderer staatlicher Organisationen, zuzüglich einer ungeheuren Anzahl spontan entstandener Massenvereinigungen der Werktätigen, die diese Organisationen umgeben und sie mit der Bevölkerung verbinden. Die Sowjets sind die Massenorganisationen aller Werktätigen in Stadt und Land. Es sind dies keine Parteiorganisationen. Die Sowjets sind der unmittelbare Ausdruck der Diktatur des Proletariats. Durch die Sowjets werden die verschiedenartigsten Maßnahmen zur Festigung der Diktatur und zum Aufbau des Sozialismus durchgeführt. Durch die Sowjets verwirklicht das Proletariat seine staatliche Leitung der Bauernschaft. Die Sowjets verbinden die Millionenmassen der Werktätigen mit der Avantgarde des Proletariats.
Es sind dies drittens die Genossenschaften aller Art mit allen ihren Verzweigungen. Dies ist eine Massenorganisation der Werktätigen, keine Parteiorganisation, eine Organisation, die die Werktätigen vor allem als Konsumenten, und im Laufe der Zeit auch als Produzenten (landwirtschaftliche Genossenschaft) vereinigt. Sie gewinnt besondere Bedeutung nach der Festigung der Diktatur des Proletariats, in der Periode des breit entfalteten Aufbaus. Sie erleichtert die Verbindung der Avantgarde des Proletariats mit den Massen der Bauernschaft und schafft die Möglichkeit, diese Massen in den Strom des sozialistischen Aufbaus hineinzuziehen.
Es ist dies viertens der Jugendverband. Dies ist eine Massenorganisation der Arbeiter- und Bauernjugend, keine Parteiorganisation, sie lehnt sich aber an die Partei an. Ihre Aufgabe ist es, der Partei bei der Erziehung der jungen Generation im Geiste des Sozialismus zu helfen. Sie stellt die jungen Reserven für alle übrigen Massenorganisationen des Proletariats in allen Verwaltungszweigen. Der Jugendverband erlangt besondere Bedeutung nach der Festigung der Diktatur des Proletariats, in der Periode der umfassenden Kultur- und Erziehungsarbeit des Proletariats.
Es ist dies schließlich die Partei des Proletariats, seine Avantgarde. Ihre Kraft besteht darin, daß sie die Besten des Proletariats aus allen seinen Massenorganisationen in sich aufnimmt. Ihre Bestimmung ist es, die Arbeit aller Massenorganisationen des Proletariats ohne Ausnahme zusammenzufassen und deren Tätigkeit auf ein Ziel, auf das Ziel der Befreiung des Proletariats, zu richten. Diese zusammenzufassen und auf ein einheitliches Ziel zu lenken, ist aber absolut notwendig, da sonst die Einheit des Kampfes des Proletariats unmöglich ist, da sonst die Führung der proletarischen Massen in ihrem Kampfe um die Macht, in ihrem Kampfe um den Aufbau des Sozialismus unmöglich ist. Aber die Arbeit der Massenorganisationen des Proletariats zusammenzufassen und zu lenken vermag nur die Avantgarde des Proletariats, seine Partei. Nur die Partei des Proletariats, nur die Partei der Kommunisten vermag diese Rolle des Hauptführers im System der Diktatur des Proletariats zu erfüllen.
Warum?
"Erstens, weil die Partei ein Sammelbecken der besten Elemente der Arbeiterklasse ist, die mit den parteilosen Organisationen des Proletariats unmittelbar verbunden sind und diese sehr oft leiten; zweitens, weil die Partei, als Sammelbecken der Besten der Arbeiterklasse, die beste Schule zur Heranbildung von Führern der Arbeiterklasse ist, die fähig sind, die Organisation ihrer Klasse in allen ihren Formen zu leiten; drittens, weil die Partei als die beste Schule von Führern der Arbeiterklasse, dank ihrer Erfahrung und Autorität, die einzige Organisation ist, die fähig ist, die Leitung des Kampfes des Proletariats zu zentralisieren und auf diese Weise alle wie immer gearteten parteilosen Organisationen der Arbeiterklasse in Hilfsorgane und Transmissionsriemen zu verwandeln, die sie mit der Klasse verbinden." (Siehe "Über die Grundlagen des Leninismus".)
Die Partei ist die grundlegende führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats.
"Die Partei ist die höchste Form des klassenmäßigen Zusammenschlusses des Proletariats." (Lenin.)
Also: die Gewerkschaften als Massenorganisationen des Proletariats, die die Partei mit der Klasse, vor allem auf dem Gebiete der Produktion verbindet; die Sowjets als Massenorganisationen der Werktätigen, die die Partei mit diesen, vor allem auf staatlichem Gebiete verbindet; die Genossenschaften als Massenorganisationen, hauptsächlich der Bauernschaft, die die Partei mit den Bauernmassen, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiete, auf dem Gebiete der Erziehung der Bauernschaft in den sozialistischen Aufbau, verbindet; der Jugendverband als Massenorganisation der Arbeiter- und Bauernjugend, eine Organisation, die berufen ist, der Avantgarde des Proletariats die sozialistische Erziehung der neuen Generation und die Heranbildung der jungen Reserven zu erleichtern; und schließlich die Partei als grundlegende führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats, die berufen ist, alle diese Massenorganisationen zu leiten - das ist im allgemeinen das Bild des "Mechanismus" der Diktatur, das Bild des "Systems der Diktatur des Proletariats".
Ohne die Partei als die grundlegende führende Kraft ist eine einigermaßen dauernde und feste Diktatur des Proletariats unmöglich.
Wir haben also, um mit Lenin zu sprechen, "im großen und ganzen einen formal nichtkommunistischen, elastischen und verhältnismäßig umfassenden, überaus mächtigen proletarischen Apparat, durch den die Partei mit der Klasse und der Masse eng verbunden ist und durch den unter Führung der Partei die Diktatur der Klasse verwirklicht wird" (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 10, S. 82).
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Partei die Gewerkschaften, die Sowjets und die anderen Massenorganisationen ersetzen kann oder soll. Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats. Aber sie verwirklicht sie nicht unmittelbar, sondern mit Hilfe der Gewerkschaften, durch die Sowjets und deren Verzweigungen. Ohne diese "Transmissionen" würde eine einigermaßen feste Diktatur unmöglich sein.
"Die Diktatur läßt sich nicht verwirklichen", sagt Lenin, "ohne einige 'Transmissionen' von der Avantgarde zur Masse der fortgeschrittenen Klasse und von dieser zur Masse der Werktätigen." "...Die Partei saugt sozusagen die Avantgarde des Proletariats in sich auf, und diese Avantgarde verwirklicht die Diktatur des Proletariats. Und ohne ein solches Fundament wie die Gewerkschaften zu besitzen, kann die Diktatur nicht verwirklicht, können die staatlichen Funktionen nicht ausgeübt werden. Ausgeübt werden müssen sie mit Hilfe einer Reihe besonderer Institutionen, wiederum neuer Art, nämlich: mit Hilfe des Sowjetapparats." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 80 und 78/79.)
Als höchster Ausdruck der führenden Rolle der Partei, z.B. bei uns, in der Sowjetunion, im Lande der Diktatur des Proletariats, muß die Tatsache bezeichnet werden, daß keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage durch unsere Sowjet- und andere Massenorganisationen ohne leitende Weisungen der Partei entschieden wird. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die Diktatur des Proletariats dem Wesen nach die "Diktatur" seiner Avantgarde, die "Diktatur" seiner Partei als der grundlegenden führenden Kraft des Proletariats ist. Darüber sagt Lenin auf dem II. Kongreß der Komintern:
"Tanner erklärt, daß er für die Diktatur des Proletariats sei, daß er sich aber die Diktatur des Proletariats nicht ganz so vorstelle wie wir. Wir verstünden unter der Diktatur des Proletariats im Grunde genommen die Diktatur seiner organisierten und klassenbewußten Minderheit. Und in der Tat, im Zeitalter des Kapitalismus, wo die Arbeitermassen unaufhörlich ausgebeutet werden und nicht imstande sind, ihre menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, ist für die politischen Parteien der Arbeiter gerade der Umstand am charakteristischsten, daß sie nur eine Minderheit ihrer Klasse erfassen können. Die politische Partei kann nur die Minderheit der Klasse erfassen, ebenso wie die wirklich klassenbewußten Arbeiter in jeder kapitalistischen Gesellschaft nur die Minderheit aller Arbeiter bilden. Deshalb müssen wir anerkennen, daß nur diese klassenbewußte Minderheit die breiten Arbeitermassen leiten und führen kann. Wenn Genosse Tanner sagt, daß er ein Feind der Partei sei, daß er aber gleichzeitig dafür sei, daß eine Minderheit der am besten organisierten und revolutionärsten Arbeiter dem ganzen Proletariat den Weg weise, so sage ich, daß zwischen uns in Wirklichkeit keine Differenz besteht." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 10, S. 206.)
Heißt das aber, daß man zwischen der Diktatur des Proletariats und der führenden Rolle der Partei (der 'Diktatur' der Partei) das Gleichheitszeichen setzen kann, daß man die erste der zweiten gleichstellen kann, die erste durch die zweite ersetzen kann? Natürlich heißt es das nicht. Natürlich kann man das nicht. Sorin z. B. sagt: "Die Diktatur des Proletariats ist die Diktatur unserer Partei." ('Lenins Lehre von der Partei', S. 95 russ.) Diese These stellt, wie man sieht, die 'Diktatur der Partei' der Diktatur des Proletariats gleich. Kann man diese Gleichstellung als richtig bezeichnen, ohne den Boden des Leninismus zu verlassen? Nein, das kann man nicht. Und zwar aus folgenden Gründen.
Erstens. In dem oben angeführten Zitat aus der Rede Lenins auf dem II. Kongreß der Komintern stellt Lenin keineswegs die führende Rolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleich. Er spricht bloß davon, daß "nur die klassenbewußte Minderheit (d.h. die Partei. J. St.) die breiten Arbeitermassen leiten und führen kann", daß wir also eben in diesem Sinne "unter der Diktatur des Proletariats im Grunde genommen die Diktatur seiner organisierten und klassenbewußten Minderheit verstehen". Wenn man "im Grunde genommen" sagt, so heißt das noch nicht "vollständig". Wir sagen oft, daß die nationale Frage im Grunde genommen eine Bauernfrage sei. Und das ist völlig richtig. Doch bedeutet das noch nicht, daß die nationale Frage sich mit der Bauernfrage deckt, daß die Bauernfrage ihrem Umfange nach der nationalen Frage gleich, daß die Bauernfrage mit der nationalen Frage identisch ist. Es bedarf keiner Beweise, daß die nationale Frage ihrem Umfange nach breiter und reichhaltiger ist als die Bauernfrage. Das gleiche ist, als Analogie hierzu, über die Führerrolle der Partei und über die Diktatur des Proletariats zu sagen. Verwirklicht die Partei die Diktatur des Proletariats und ist in diesem Sinne die Diktatur des Proletariats im Grunde genommen "die Diktatur" seiner Partei, so bedeutet das noch nicht, daß die "Diktatur der Partei" (die führende Rolle) identisch ist mit der Diktatur des Proletariats, daß die erste und die zweite ihrem Umfang nach gleich sind. Es bedarf keiner Beweise, daß die Diktatur des Proletariats ihrem Umfange nach breiter und reichhaltiger ist als die führende Rolle der Partei. Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats, es ist dies aber die Diktatur des Proletariats und keine andere. Wer die Führerrolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der ersetzt die Diktatur des Proletariats durch die "Diktatur" der Partei.
Zweitens. Kein einziger wichtiger Beschluß der Massenorganisationen des Proletariats kommt ohne leitende Weisungen der Partei zustande. Das ist völlig richtig. Doch bedeutet das, daß die Diktatur des Proletariats sich in den leitenden Weisungen der Partei erschöpft? Bedeutet das, daß man die leitenden Weisungen der Partei aus diesem Grunde der Diktatur des Proletariats gleichstellen kann? Natürlich nicht. Die Diktatur des Proletariats besteht aus den leitenden Weisungen der Partei samt der Durchführung dieser Weisungen durch die Massenorganisationen des Proletariats, samt ihrer Umsetzung in die Tat durch die Bevölkerung. Hier haben wir es, wie man sieht, mit einer ganzen Reihe von Übergängen und Zwischenstufen zu tun, die ein bei weitem nicht unwichtiges Moment der Diktatur des Proletariats ausmachen. Zwischen den leitenden Weisungen der Partei und ihrer Umsetzung in die Tat liegen folglich der Wille und die Handlungen der Gefährten, der Wille und die Handlungen der Klasse, ihre Bereitschaft (oder Weigerung), solche Weisungen zu unterstützen, ihre Fähigkeit (oder Unfähigkeit), diese Weisungen durchzuführen, ihre Fähigkeit (oder Unfähigkeit), sie gerade so durchzuführen, wie die Lage es erfordert. Es bedarf wohl keiner Beweise, daß die Partei, die die Führung auf sich genommen hat, mit dem Willen, mit dem Zustande, mit dem Bewußtseinsgrade der von ihr Geführten rechnen muß, daß sie den Willen, den Zustand und den Bewußtseinsgrad ihrer Klasse nicht außer Rechnung lassen darf. Wer daher die führende Rolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der ersetzt den Willen und die Handlungen der Klasse durch die Weisungen der Partei.
Drittens. "Die Diktatur des Proletariats", sagt Lenin, "ist der Klassenkampf des Proletariats, das gesiegt und die politische Macht erobert hat." (Lenin, Vorwort zu: "Wie das Volk mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 311 russ.) Worin kann dieser Klassenkampf zum Ausdruck kommen? Er kann zum Ausdruck kommen in einer Reihe bewaffneter Aktionen des Proletariats gegen die Vorstöße der gestürzten Bourgeoisie oder gegen die Intervention der ausländischen Bourgeoisie. Er kann zum Ausdruck kommen im Bürgerkrieg, wenn die Diktatur des Proletariats noch nicht gefestigt ist. Er kann zum Ausdruck kommen in einer breiten Organisations- und Aufbauarbeit des Proletariats, unter Heranziehung der breiten Massen zu diesem Werke, wenn sich die Macht schon gefestigt hat. In allen diesen Fällen ist die handelnde Person das Proletariat als Klasse. Es ist niemals vorgekommen, daß die Partei, die Partei allein, alle diese Aktionen ausschließlich mit ihren eigenen Kräften, ohne Unterstützung der Klasse, organisiert hätte. Gewöhnlich leitet sie bloß diese Aktionen, und zwar leitet sie sie in dem Maße, in dem sie die Unterstützung der Klasse besitzt. Denn die Partei kann sich nicht mit der Klasse decken, sie kann nicht die Klasse ersetzen. Denn die Partei bleibt, bei all ihrer wichtigen, führenden Rolle, dennoch ein Teil der Klasse. Wer daher die führende Rolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der verwechselt die Klasse mit der Partei.
Viertens. Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats. "Die Partei ist die unmittelbar regierende Avantgarde des Proletariats, sie ist der Führer." (Lenin.) In diesem Sinne übernimmt die Partei die Macht, regiert die Partei das Land. Doch bedeutet das noch nicht, daß die Partei die Diktatur des Proletariats unter Außerachtlassung der Staatsmacht, ohne die Staatsmacht, verwirklicht, daß die Partei das Land unabhängig von den Sowjets, nicht durch die Sowjets, regiert. Das bedeutet noch nicht, daß man die Partei den Sowjets, der Staatsmacht, gleichstellen kann. Die Partei ist der Kern der Macht. Aber sie ist nicht die Staatsmacht und kann nicht der Staatsmacht gleichgestellt werden. "Als regierende Partei", sagt Lenin, "konnten wir nicht umhin, die 'Spitzen' der Sowjets mit den 'Spitzen' der Partei zu verschmelzen - sie sind bei uns verschmolzen und werden es bleiben." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 254.) Das ist völlig richtig. Aber damit will Lenin keineswegs sagen, daß unsere Sowjetinstitutionen als Ganzes, z.B. unsere Armee, unser Verkehrswesen, unsere Wirtschaftsinstitutionen usw., Institutionen unserer Partei sind, daß die Partei die Sowjets und ihre Verzweigungen ersetzen, daß man die Partei der Staatsmacht gleichstellen kann.
Lenin hat wiederholt davon gesprochen, daß "das Sowjetsystem die Diktatur des Proletariats ist", daß "die Sowjetmacht die Diktatur des Proletariats ist" (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 7, S. 233 und 231), aber er hat niemals gesagt, daß die Partei die Staatsmacht sei, daß sie Sowjets und die Partei ein und dasselbe seinen. Die Partei, die einige hunderttausend Mitglieder zählt, leitet in der Hauptstadt und in der Provinz die Sowjets und deren Verzweigungen, die einige Millionen Menschen, Parteimitglieder und Parteilose, umfassen, aber sie kann und darf sie nicht ersetzen. Deshalb sagt Lenin, daß die "Diktatur verwirklicht wird durch das in den Sowjets organisierte Proletariat, das von der Kommunistischen Partei der Bolschewiki geführt wird", daß "die ganze Arbeit der Partei mit Hilfe der Sowjets erfolgt, die die werktätigen Massen ohne Unterschied des Berufs vereinigen" (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 10, S. 81 und 83), daß man die Diktatur "... mit Hilfe des Sowjetapparates verwirklichen muß" (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 79). Wer daher die führende Rolle der Partei mit der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der verwechselt die Sowjets, die Staatsmacht, mit der Partei.
Fünftens. Der Begriff der Diktatur des Proletariats ist ein staatlicher Begriff. Die Diktatur des Proletariats schließt unbedingt den Begriff der Gewalt ein. Ohne Gewalt gibt es keine Diktatur, wenn man die Diktatur im strengen Sinne dieses Wortes auffaßt. Lenin definiert die Diktatur des Proletariats als "Staatsmacht, die sich unmittelbar auf die Gewalt stützt" (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XIX, S. 397). Spricht man daher von der Diktatur der Partei gegenüber der Klasse der Proletarier und stellt diese Diktatur der Diktatur des Proletariats gleich, so wird damit gesagt, daß die Partei gegenüber ihrer Klasse nicht bloß Leiter, nicht bloß Führer und Lehrer sein muß, sondern auch eine Art Staatsmacht, die ihr gegenüber Gewalt anwendet. Wer daher die "Diktatur der Partei" der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der geht stillschweigend davon aus, daß man die Autorität der Partei auf Gewalt aufbauen kann, was absurd und mit dem Leninismus völlig unvereinbar ist. Die Autorität der Partei beruht auf dem Vertrauen der Arbeiterklasse. Das Vertrauen der Arbeiterklasse aber wird nicht durch Gewalt erworben - durch Gewalt könnte es nur vernichtet werden -, sondern durch die richtige Theorie der Partei, durch die richtige Politik der Partei, durch die Ergebenheit der Partei für die Sache der Arbeiterklasse, durch ihre Verbundenheit mit den Massen der Arbeiterklasse, durch ihre Bereitschaft, ihre Fähigkeit, die Massen von der Richtigkeit ihrer Losungen zu überzeugen.
Was aber folgt aus alledem?
Lenin wendet das Wort Diktatur der Partei nicht im strengen Sinne dieses Wortes an ("Staatsmacht, die sich auf die Gewalt stützt"), sondern im übertragenen Sinne, im Sinne der Führung; wer die Führerrolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleichstellt, der entstellt Lenin, da er der Partei fälschlich Funktionen der Gewalt gegenüber der Arbeiterklasse als Ganzem zuschreibt; wer der Partei Funktionen der Gewalt gegenüber der Arbeiterklasse zuschreibt, die ihr nicht eigen sind, der verletzt die elementaren Forderungen nach richtigen Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse, zwischen Partei und Proletariat. Wir stehen somit unmittelbar vor der Frage der Wechselbeziehungen zwischen Partei und Klasse, zwischen Parteimitgliedern und Parteilosen innerhalb der Arbeiterklasse.
Lenin definiert diese Wechselbeziehungen als "gegenseitiges Vertrauen zwischen der Vorhut der Arbeiterklasse und der Arbeitermasse" (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 291).
Was bedeutet das?
Das bedeutet erstens, daß die Partei für die Stimme der Massen ein feines Ohr haben muß, daß sie sich dem revolutionären Instinkt der Massen gegenüber aufmerksam verhalten muß, daß sie die Praxis des Kampfes der Massen studieren muß, indem sie daran die Richtigkeit ihrer Politik prüft, daß sie folglich nicht nur die Massen lehren, sondern auch von ihnen lernen muß.
Das bedeutet zweitens, daß die Partei tagaus, tagein sich das Vertrauen der proletarischen Massen erobern muß, daß sie durch ihre Politik und ihre Arbeit die Unterstützung der Massen erringen muß, daß sie nicht kommandieren darf, sondern vor allem überzeugen muß, indem sie es den Massen erleichtert, an Hand ihrer eigenen Erfahrungen die Richtigkeit der Politik der Partei zu erkennen, daß sie folglich Leiter, Führer, Lehrer ihrer Klasse sein muß.
Die Verletzung dieser Bedingungen bedeutet die Verletzung der richtigen Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse, die Untergrabung des "gegenseitigen Vertrauens", den Zerfall sowohl der Klassen- als auch der Parteidisziplin.
"Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder", sagt Lenin, "daß die Bolschewiki keine zweieinhalb Monate, geschweige denn zweieinhalb Jahre die Macht hätten behaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei, ohne die vollste und grenzenloseste Unterstützung der Partei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse (Von mir hervorgehoben, J. St.), d.h. durch alles, was in dieser Klasse denkt, ehrlich, selbstlos ist, Einfluß hat und fähig ist, die rückständigen Schichten zu führen oder mit sich fortzureißen." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 10, S. 56.)
"Die Diktatur des Proletariats", sagt Lenin weiter, "ist ein zäher Kampf, ein blutiger und unblutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft. Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen ist die fürchterlichste Macht. Ohne eine eiserne und kampfgestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen alles dessen genießt, was in der gegebenen Klasse ehrlich ist, ohne eine Partei, die es versteht, die Stimmung der Massen zu verfolgen und zu beeinflussen, ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreich zu führen." (Ebenda S. 78.)
Wie erwirbt aber die Partei dieses Vertrauen und diese Unterstützung der Klasse? Wie bildet sich die für die Diktatur des Proletariats notwendige eiserne Disziplin heraus, auf welchem Boden erwächst sie?
Darüber sagt Lenin folgendes:
"Worauf stützt sich die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats? Wodurch wird sie kontrolliert? Wodurch gestärkt? Erstens durch das Klassenbewußtsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbstaufopferung, ihren Heroismus. Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nicht proletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern und, wenn ihr wollt, bis zu einem gewissen Grad sich sogar mit ihnen zu verschmelzen. Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung die von dieser Avantgarde verwirklicht wird, durch die Richtigkeit ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, daß die breitesten Massen sich durch die eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen. Ohne diese Bedingungen kann in einer revolutionären Partei, die wirklich fähig ist, die Partei der fortgeschrittenen Klasse zu sein, die die Bourgeoisie zu stürzen und die ganze Gesellschaft umzugestalten hat, die Disziplin nicht verwirklicht werden. Ohne diese Bedingungen werden Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unvermeidlich zu einer Fiktion, zu einer Phrase, zu einer Farce. Diese Bedingungen können aber andererseits nicht auf einmal entstehen. Sie werden nur durch langwierige Arbeit, durch harte Erfahrung entwickelt; die Entwicklung wird durch die richtige, revolutionäre Theorie erleichtert, die ihrerseits kein Dogma ist, sondern nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt." (Ebenda S. 57 / 58.)
Und ferner:
"Um über den Kapitalismus zu siegen, bedarf es richtiger Wechselbeziehungen zwischen der führenden, der kommunistischen Partei, der revolutionären Klasse, dem Proletariat, und der Masse, d.h. der Gesamtheit der Werktätigen und Ausgebeuteten. Nur die kommunistische Partei, wenn sie tatsächlich die Avantgarde der revolutionären Klasse ist, wenn sie die besten Vertreter dieser Klasse in ihren Reihen zählt, wenn sie aus völlig bewußten, der Sache treu ergebenen Kommunisten besteht, die in zähen revolutionären Kämpfen geschult und gestählt worden sind, wenn sie es verstanden hat, sich mit dem ganzen Leben ihrer Klasse und durch sie mit der ganzen Masse der Ausgebeuteten unzertrennlich zu verknüpfen und dieser Klasse und dieser Masse volles Vertrauen einzuflößen, nur eine solche Partei ist fähig, das Proletariat in dem schonungslosesten, in dem entscheidenden, letzten Kampfe gegen alle Mächte des Kapitalismus zu führen. Andererseits ist das Proletariat nur unter der Führung einer solchen Partei fähig, die ganze Macht seines revolutionären Ansturms zu entfalten, die unausbleibliche Apathie und selbst den Widerstand einer kleinen Minderheit der vom Kapitalismus verdorbenen Arbeiteraristokratie, der alten Führer der Gewerkschaften, Genossenschaften usw. zu überwinden, seine ganze Kraft zu entfalten, die infolge der wirtschaftlichen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft unvergleichlich größer ist als sein Anteil an der Bevölkerung." (Ebenda S. 157 / 158.)
Aus diesen Zitaten folgt:
die Autorität der Partei und die für die Diktatur des Proletariats notwendige eiserne Disziplin in der Arbeiterklasse beruhen nicht auf der Furcht oder den "unbeschränkten" Rechten der Partei, sondern auf dem Vertrauen der Arbeiterklasse zur Partei, auf der Unterstützung der Partei durch die Arbeiterklasse; das Vertrauen der Arbeiterklasse zur Partei wird nicht auf einmal und nicht durch Gewaltanwendung gegenüber der Arbeiterklasse erworben, sondern durch langwierige Arbeit der Partei in den Massen, durch die richtige Politik der Partei, durch die Fähigkeit der Partei, die Massen von der Richtigkeit ihrer Politik an Hand der eigenen Erfahrung der Massen zu überzeugen, durch die Fähigkeit der Partei, sich die Unterstützung der Arbeiterklasse zu sichern, die Massen der Arbeiterklasse zu führen; ohne die richtig Politik der Partei, die durch die Erfahrung des Kampfes der Massen bekräftigt wird, und ohne das Vertrauen der Arbeiterklasse gibt es keine wirkliche Führung durch die Partei und kann es sie auch nicht geben; die Partei und ihre Führung können - wenn die Partei das Vertrauen der Klasse genießt und wenn ihre Führung eine wirkliche Führung ist - nicht der Diktatur des Proletariats gegenübergestellt werden, denn ohne Führung durch die das Vertrauen der Arbeiterklasse genießende Partei ("Diktatur" der Partei) ist eine einigermaßen feste Diktatur des Proletariats unmöglich. Ohne diese Bedingungen sind die Autorität der Partei und die eiserne Disziplin entweder eine hohle Phrase oder Überheblichkeit und Abenteurertum.
Man darf die Diktatur des Proletariats nicht der Führung durch die Partei (ihrer "Diktatur") gegenüberstellen. Man darf es nicht, weil die Führung durch die Partei das Wesentliche an der Diktatur des Proletariats ist, wenn man eine einigermaßen feste und vollständige Diktatur im Auge hat und nicht etwa eine solche, wie es z.B. die Pariser Kommune war, die keine vollständige und feste Diktatur darstellte. Man darf es nicht, weil die Diktatur des Proletariats und die Führung durch die Partei sozusagen auf derselben Linie der Arbeit liegen und in derselben Richtung wirksam sind.
"Schon die Fragestellung allein", sagt Lenin, " 'Diktatur der Partei oder Diktatur der Klasse? Diktatur (Partei) der Führer oder Diktatur (Partei) der Massen?' zeugt von einer ganz unglaublichen und ausweglosen Gedankenverwirrung ... Jedermann weiß, daß die Massen sich in Klassen teilen ..., daß die Klassen gewöhnlich und in der Mehrzahl der Fälle, wenigstens in den modernen zivilisierten Ländern, von den politischen Parteien geführt werden; daß die politischen Parteien als allgemeine Regel von mehr oder minder festen Gruppen der autoritativsten, einflußreichsten, erfahrensten, auf die verantwortungsvollsten Posten gewählten Personen gelenkt werden, die Führer genannt werden ... Sich aus diesem Anlaß bis zur Gegenüberstellung der Diktatur der Massen und der Diktatur der Führer überhaupt zu versteigen, ist ein lächerlicher Unsinn und eine Dummheit." (Ebenda S. 75 und 77.)
Das ist völlig richtig. Aber diese richtige Auffassung geht von der Voraussetzung aus, daß die richtige Wechselbeziehung zwischen der Avantgarde und den Arbeitermassen, zwischen Partei und Klasse vorhanden sind. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß die Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse sozusagen normal, im Rahmen des "gegenseitigen Vertrauens" bleiben.
Wie aber, wenn die richtigen Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse, wenn die Beziehungen des "gegenseitigen Vertrauens" zwischen Partei und Klasse gestört sind? Wie dann, wenn die Partei selbst beginnt, auf die eine oder die andere Weise sich der Klasse gegenüberzustellen, indem sie die Grundlagen der richtigen Wechselbeziehungen zur Klasse, die Grundlagen des "gegenseitigen Vertrauens" verletzt? Sind solche Fälle überhaupt möglich? Ja, sie sind möglich. Sie sind möglich:
wenn die Partei beginnt, ihre Autorität in den Massen nicht auf ihre Arbeit und das Vertrauen der Massen, sondern auf ihre "unbeschränkten Rechte" zu gründen; wenn die Politik der Partei offenkundig unrichtig ist, sie aber ihren Fehler nicht überprüfen und korrigieren will; wenn die Politik der Partei im allgemeinen zwar richtig ist, die Massen aber noch nicht bereit sind, sie sich zu eigen zu machen, die Partei jedoch nicht abwarten will oder nicht abzuwarten versteht, um den Massen die Möglichkeit zu geben, sich an Hand ihrer eigenen Erfahrung von der Richtigkeit der Politik der Partei zu überzeugen. Die Geschichte unserer Partei kennt eine ganze Reihe solcher Fälle. Die verschiedenen Gruppierungen und Fraktionen in unserer Partei kamen zu Fall und zerstoben deshalb, weil sie eine dieser drei Bedingungen oder manchmal auch alle diese Bedingungen zusammen verletzten.
Daraus folgt aber, daß die Gegenüberstellung von Diktatur des Proletariats und "Diktatur" (Führung) der Partei nur dann nicht als richtig anerkannt werden kann:
wenn man unter der Diktatur der Partei gegenüber der Arbeiterklasse nicht die Diktatur im eigentlichen Sinne dieses Wortes ("die Macht, die sich auf die Gewalt stützt"), sondern die Führung durch die Partei versteht, die eine Gewaltanwendung gegenüber der Klasse als Ganzes, gegenüber ihrer Mehrheit ausschließt, wie dies eben auch von Lenin gemeint ist; wenn die Partei die nötigen Voraussetzungen hat, um wirklicher Führer der Klasse zu sein, das heißt, wenn die Politik der Partei richtig ist, wenn diese Politik den Interessen der Klasse entspricht; wenn die Klasse, wenn die Mehrheit der Klasse mit dieser Politik einverstanden ist, sie sich zu eigen macht, sich dank der Arbeit der Partei von der Richtigkeit dieser Politik überzeugt, der Partei vertraut und sie unterstützt. Die Verletzung dieser Bedingungen ruft unweigerlich einen Konflikt zwischen Partei und Klasse, eine Spaltung zwischen den beiden, ihre Gegenüberstellung hervor.
Kann man der Klasse mit Gewalt die Führung der Partei aufdrängen? Nein, das kann man nicht. Jedenfalls kann eine solche Führung keine auch nur einigermaßen dauernde sein. Wenn die Partei die Partei des Proletariats bleiben will, so muß sie wissen, daß sie vor allem und hauptsächlich Leiter, Führer, Lehrer der Arbeiterklasse ist. Wir dürfen die Worte Lenins nicht vergessen, die er darüber in seiner Schrift "Staat und Revolution" gesagt hat:
"Durch Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Leiter, Lehrer, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie." (Lenin, Staat und Revolution, S. 18.)
Kann man die Ansicht vertreten, daß die Partei der wirkliche Führer der Klasse ist, wenn ihre Politik unrichtig ist, wenn ihre Politik mit den Interessen der Klasse in Kollision gerät? Natürlich kann man das nicht. In solchen Fällen muß die Partei, wenn sie Führer bleiben will, ihre Politik überprüfen, muß sie ihre Politik richtigstellen, ihren Fehler zugeben und wiedergutmachen. Man könnte sich zur Bestätigung dieses Leitsatzes auf eine solche Tatsache aus der Geschichte unserer Partei berufen, wie die Periode der Abschaffung der Ablieferungspflicht, als die Arbeiter- und Bauernmassen offensichtlich ihre Unzufriedenheit mit unserer Politik bekundeten und als die Partei offen und ehrlich an die Überprüfung dieser Politik schritt. Sehen wir, was Lenin damals auf dem X. Parteitag über die Frage der Abschaffung der Ablieferungspflicht und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik sagte:
"Wir dürfen nichts zu verheimlichen suchen, sondern müssen unverblümt aussprechen, daß die Bauernschaft mit der Form der Beziehungen, wie sie sich bei uns zu ihr herausgebildet hat, unzufrieden ist, daß sie diese Form der Beziehungen nicht will und so nicht weiterleben wird. Das ist unbestreitbar. Dieser Wille der Bauernschaft ist in ganz bestimmter Weise zum Ausdruck gekommen. Das ist der Wille der ungeheuren Massen der werktätigen Bevölkerung. Dem müssen wir Rechnung tragen, und wir sind nüchterne Politiker genug um geradeheraus zu sagen: Laßt uns unsere Politik gegenüber der Bauernschaft revidieren." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 295.)
Kann man die Ansicht vertreten, daß die Partei die Initiative und die Leitung bei der Organisierung der entscheidenden Massenaktionen lediglich aus dem Grund auf sich nehmen muß, weil ihre Politik im allgemeinen richtig ist, wenn diese Politik noch nicht das Vertrauen und die Unterstützung der Klasse findet infolge, sagen wir, der politischen Rückständigkeit der Klasse, wenn es der Partei noch nicht gelungen ist, die Klasse von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen, weil, sagen wir, die Ereignisse noch nicht herangereift sind? Nein, keineswegs. In solchen Fällen muß die Partei, wenn sie ein wirklicher Führer sein will, abzuwarten verstehen, muß sie die Massen von der Richtigkeit ihrer Politik überzeugen, muß sie den Massen helfen, sich an Hand ihrer eigenen Erfahrung von der Richtigkeit dieser Politik zu überzeugen.
"Hat die revolutionäre Partei", sagt Lenin, "nicht die Mehrheit in der Vorhut der revolutionären Klassen und im Lande, so kann von einem Aufstand keine Rede sein." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 6, S. 296.)
"Ohne eine Änderung in den Anschauungen der Mehrheit der Arbeiterklasse ist die Revolution unmöglich, diese Änderung aber wird durch die politische Erfahrung der Massen geschaffen." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 10, S. 119.)
"Die proletarische Avantgarde ist ideologisch gewonnen. Das ist das Wesentliche. Ohne diese Vorbedingungen kann man nicht einmal den ersten Schritt zum Siege machen. Aber von hier bis zum Siege ist es noch ziemlich weit. Mit der Avantgarde allein kann man nicht siegen. Die Avantgarde allein in den entscheidenden Kampf werfen, solange die ganze Klasse, solange die breiten Massen nicht eine Position eingenommen haben, wo sie die Avantgarde entweder direkt unterstützen oder wenigstens eine wohlwollende Neutralität ihr gegenüber üben und eine völlige Unfähigkeit, ihren Gegner zu unterstützen, an den Tag gelegt haben, wäre nicht nur eine Dummheit, sondern auch ein Verbrechen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit wirklich die breiten Massen der Werktätigen und vom Kapital Unterdrückten zu dieser Position gelangen, dazu ist Propaganda allein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es der eigenen politischen Erfahrung dieser Massen." (Ebenda S. 128.)
Es ist bekannt, daß unsere Partei in der Periode von den Aprilthesen Lenins bis zum Oktoberaufstand 1917 eben in dieser Weise handelte. Und gerade deshalb, weil sie gemäß diesen Hinweisen Lenins handelte, hat sie den Aufstand siegreich durchgeführt.
Das sind im wesentlichen die Bedingungen für die richtigen Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse.
Was heißt führen, wenn die Politik der Partei richtig ist und die richtigen Beziehungen zwischen Avantgarde und Klasse nicht gestört werden?
Führen heißt unter diesen Bedingungen: verstehen, die Massen von der Richtigkeit der Politik der Partei zu überzeugen, heißt solche Losungen aufstellen und durchführen, die die Massen an die Positionen der Partei heranführen und es ihnen erleichtern, an Hand ihrer eigenen Erfahrungen die Richtigkeit der Politik der Partei zu erkennen, die Massen auf das Niveau des Bewußtseins der Partei heben und sich somit die Unterstützung der Massen, ihre Bereitschaft zum entscheidenden Kampfe sichern.
Deshalb ist die Methode der Überzeugung die Hauptmethode der Führung der Klasse durch die Partei.
"Wenn wir", sagt Lenin, "jetzt in Rußland, nach zweieinhalb Jahren ungeahnter Siege über die Bourgeoisie Rußlands und der Entente, die 'Anerkennung der Diktatur' zur Bedingung für den Eintritt in die Gewerkschaften machen wollten, so würden wir eine Dummheit begehen, unserem Einfluß auf die Massen Abbruch tun und den Menschewiki Vorschub leisten. Denn die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht darin, es zu verstehen, die Rückständigen zu überzeugen, unter ihnen zu arbeiten, nicht aber sich von ihnen durch ausgeklügelte, kindisch-'radikale' Losungen abzusondern." (Ebenda S. 88.)
Das bedeutet natürlich nicht, daß die Partei alle Arbeiter, bis auf den letzten Mann, überzeugen muß, daß man erst, wenn dies erreicht ist, zu Aktionen schreiten kann, daß man erst dann die Aktionen einleiten kann. Keineswegs. Das bedeutet bloß, daß die Partei, ehe sie zu entscheidenden politischen Aktionen schreitet, sich durch langwierige revolutionäre Arbeit die Unterstützung der Mehrheit der Arbeitermassen, zumindest aber die wohlwollende Neutralität der Mehrheit der Klasse sichern muß. Andernfalls wäre der Leninsche Leitsatz, daß die Gewinnung der Mehrheit der Arbeiterklasse für die Partei eine unerläßliche Bedingung der siegreichen Revolution ist, jeden Sinnes bar.
Aber wie steht es um die Minderheit, wenn sie nicht will, wenn sie nicht einverstanden ist, sich freiwillig dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen? Kann die Partei, soll die Partei, die das Vertrauen der Mehrheit auf ihrer Seite hat, die Minderheit zur Unterwerfung unter den Willen der Mehrheit zwingen? Jawohl, sie kann und muß es. Die Führung wird durch die Methode der Überzeugung der Massen gesichert, die die Hauptmethode der Einwirkung der Partei auf die Massen ist. Das schließt aber die Anwendung von Zwang nicht aus, sondern setzt sie voraus, wenn dieser Zwang sich auf das Vertrauen und die Unterstützung der Partei durch die Mehrheit der Arbeiterklasse gründet, wenn er gegenüber der Minderheit angewendet wird, nachdem man es vermocht hat, die Mehrheit zu überzeugen.
Man denke an die diesbezüglichen Auseinandersetzungen in unserer Partei, die in der Periode der Gewerkschaftsdiskussion stattfanden. Worin bestand damals der Fehler der Opposition, der Fehler des ZK der Eisenbahn- und Schiffahrtsarbeiter? Etwa darin, daß die Opposition damals die Anwendung von Zwang für möglich hielt? Nein, nicht darin. Der Fehler der Opposition bestand damals darin, daß sie, außerstande, die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Stellungnahme zu überzeugen, und nachdem sie das Vertrauen der Mehrheit eingebüßt hatte, dennoch Zwangsmaßnahmen anzuwenden begann und das "Durchrütteln" der Leute forderte, die das Vertrauen der Mehrheit besaßen.
Sehen wir, was Lenin damals auf dem X. Parteitag in seiner Rede über die Gewerkschaften sagte:
"Um die Wechselbeziehungen und das gegenseitige Vertrauen zwischen der Avantgarde der Arbeiterklasse und der Arbeitermasse herzustellen, hätte man, wenn das ZK der Eisenbahn- und Schiffahrtsarbeiter einen Fehler begangen hat ..., diesen Fehler korrigieren sollen. Wenn man aber anfängt, diesen Fehler zu verteidigen, so wird das zur Quelle der politischen Gefahr. Wenn wir nicht das Möglichste im Geiste der Demokratie täten, um den Stimmungen, die hier Kutusow zum Ausdruck bringt, Rechnung zu tragen, so würden wir einen politischen Zusammenbruch erleben. Vor allem müssen wir überzeugen und dann erst Zwang anwenden. Wir müssen um jeden Preis zuerst überzeugen und dann erst Zwang anwenden. Wir haben es nicht verstanden, die breiten Massen zu überzeugen, und haben das richtige Verhältnis zwischen Avantgarde und Massen gestört.." (Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXVI, S. 291.)
Dasselbe sagt Lenin in seiner Schrift "Über die Gewerkschaften":
"Wir haben dann richtig und erfolgreich Zwang angewandt, wenn wir es verstanden, vorher für ihn eine Basis durch Überzeugung zu schaffen." (Ebenda S. 92.)
Und das ist völlig richtig. Denn ohne diese Bedingungen ist keinerlei Führung möglich. Denn nur auf diese Weise kann man die Einheit der Aktion in der Partei sichern, wenn es sich um die Partei handelt, und die Einheit der Aktion der Klasse, wenn es sich um die Klasse als Ganzes handelt. Ohne diese Bedingungen kommt es zu Spaltung, Zerfahrenheit, Zersetzung in den Reihen der Arbeiterklasse.
Das sind im allgemeinen die Grundlagen der richtigen Führung durch die Partei.
Jede andere Auffassung von der Führung ist Syndikalismus, Anarchismus, Bürokratismus, was man will - nur nicht Bolschewismus, nur nicht Leninismus.
Man darf die Diktatur des Proletariats nicht der Führung durch die Partei (ihrer "Diktatur") gegenüberstellen, wenn richtige Wechselbeziehungen zwischen Partei und Arbeiterklasse, zwischen Avantgarde und Arbeitermassen vorhanden sind. Daraus folgt aber, daß man erst recht nicht die Partei der Arbeiterklasse, die Führung durch die Partei (ihrer "Diktatur") der Diktatur der Arbeiterklasse gleichstellen darf. Aus dem Grunde, weil man die "Diktatur" der Partei nicht der Diktatur des Proletariats gegenüberstellen darf, kam Sorin zu der unrichtigen Schlußfolgerung, daß "die Diktatur des Proletariats die Diktatur unserer Partei ist". Aber Lenin spricht nicht nur von der Unzulässigkeit einer solchen Gegenüberstellung. Er spricht gleichzeitig davon, daß es unzulässig ist, "die Diktatur der Massen der Diktatur der Führer" gegenüberzustellen. Soll man etwa aus diesem Grunde die Diktatur der Führer der Diktatur des Proletariats gleichstellen? Wollten wir diesen Weg beschreiten, so müßten wir sagen, daß "die Diktatur des Proletariats die Diktatur unserer Führer ist". Eben zu dieser Dummheit führt ja eigentlich die Politik der Gleichstellung der "Diktatur" der Partei mit der Diktatur des Proletariats ...
Wie steht die Sache in dieser Hinsicht bei Sinowjew?
Sinowjew steht im Grunde genommen auf demselben Standpunkt der Gleichstellung der "Diktatur" der Partei mit der Diktatur des Proletariats wie Sorin, mit dem Unterschied jedoch, daß Sorin sich unumwundener und klarer ausdrückt, während Sinowjew "sich windet". Es genügt, wenn wir z.B. folgende Stelle aus dem Buche Sinowjews "Leninismus" nehmen, um uns davon zu überzeugen:
"Was ist", sagt Sinowjew, "die in der Sowjetunion bestehende Ordnung vom Standpunkte ihres Klasseninhalts? Das ist die Diktatur des Proletariats. Was ist die unmittelbare Triebfeder der Staatsmacht in der UdSSR? Wer verwirklicht die Macht der Arbeiterklasse? Die Kommunistische Partei! In diesem Sinne besteht bei uns die Diktatur der Partei. Welches ist die juridische Form der Staatsmacht in der UdSSR? Welches ist der neue Typ der Staatsordnung, der von der Oktoberrevolution geschaffen wurde? Das ist das Sowjetsystem. Das eine widerspricht in keiner Weise dem anderen."
Daß das eine dem anderen nicht widerspricht, ist natürlich richtig, wenn man unter der Diktatur der Partei gegenüber der Arbeiterklasse als Ganzem die Führung durch die Partei versteht. Wie kann man aber aus diesem Grunde ein Gleichheitszeichen zwischen Diktatur des Proletariats und "Diktatur" der Partei, zwischen Sowjetsystem und "Diktatur" der Partei setzen? Lenin stellte das Sowjetsystem der Diktatur des Proletariats gleich, und er hatte recht, denn die Sowjets, unsere Sowjets, sind Organisationen, die die werktätigen Massen um das Proletariat unter Führung der Partei zusammenfassen. Aber wann, wo, in welchem seiner Werke hat Lenin ein Gleichheitszeichen zwischen "Diktatur" der Partei und Diktatur des Proletariats, zwischen "Diktatur" der Partei und System der Sowjets gesetzt, wie das jetzt Sinowjew tut?
Der Diktatur des Proletariats widerspricht weder die Führung ("Diktatur") durch die Partei noch die Führung ("Diktatur") durch die Führer. Soll man etwa aus diesem Grunde verkünden, daß unser Land das Land der Diktatur des Proletariats ist, das heißt das Land der Diktatur der Partei, das heißt das Land der Diktatur der Führer? Aber gerade zu dieser Dummheit führt doch das "Prinzip" der Gleichstellung der "Diktatur" der Partei mit der Diktatur des Proletariats, für das Sinowjew verstohlen und zaghaft eintritt.
In den zahlreichen Werken Lenins habe ich nur fünf Fälle finden können, wo Lenin im Vorbeigehen die Frage der Diktatur der Partei streift.
Der erste Fall betrifft eine Polemik gegen die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, wo er sagt:
"Wenn man uns die Diktatur einer Partei zum Vorwurf macht und uns, wie ihr gehört habt, die sozialistische Einheitsfront vorschlägt, so sagen wir: 'Jawohl, die Diktatur einer Partei! Dabei bleiben wir, und diesen Boden können wir nicht verlassen, weil das die Partei ist, die sich im Laufe von Jahrzehnten die Stellung als Avantgarde des gesamten Fabrik- und Industrieproletariats erobert hat.' " (Rede Lenins auf dem I. Allrussischen Kongreß der Bildungsarbeiter, Sämtl. Werke, Bd. XXIV, S. 423 russ.)
Der zweite Fall betrifft den "Brief an die Arbeiter und Bauern anläßlich des Sieges über Koltschak". Dort sagt er:
"Die Bauern schrecken sie (besonders die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sie alle, sogar die 'Linken' unter ihnen) mit dem Schreckgespenst der 'Diktatur einer Partei', der Partei der Bolschewiki, der Kommunisten. Das Beispiel Koltschak hat die Bauern gelehrt, ein Schreckgespenst nicht zu fürchten. Entweder die Diktatur (das heißt die eiserne Macht) der Gutsbesitzer und Kapitalisten oder die Diktatur der Arbeiterklasse." (Lenin, Brief an die Arbeiter und Bauern, ebenda S. 436 russ.)
Der dritte Fall betrifft die Rede Lenins auf dem II. Kongreß der Komintern, in der er gegen Tanner polemisiert. Diese Rede habe ich oben zitiert.
Der vierte Fall, das sind einige Zeilen in der Schrift "Die Kinderkrankheit". Die betreffenden Zitate wurden schon oben angeführt.
Und der fünfte Fall betrifft den Entwurf einer Disposition über die Diktatur des Proletariats, veröffentlicht im "Lenin-Sammelband" Nr. III, wo ein Untertitel "Diktatur einer Partei" vorkommt ("Lenin-Sammelband" Nr. III, S. 497 russ.).
Es muß festgestellt werden, daß Lenin in zwei von den fünf Fällen, nämlich im letzten und im zweiten Fall, die Worte "Diktatur einer Partei" in Anführungszeichen setzt und damit offenkundig den ungenauen, übertragenen Sinn dieser Formel unterstreicht.
Es muß ferner festgestellt werden, daß Lenin in allen diesen Fällen unter "Diktatur der Partei" gegenüber der Arbeiterklasse nicht die Diktatur im eigentlichen Sinne dieses Wortes ("sich auf die Gewalt stützende Macht"), sondern die Führung durch die Partei versteht.
Es ist charakteristisch, daß in keinem einzigen seiner Werke, weder in den grundlegenden noch in den übrigen, wo Lenin die Diktatur des Proletariats und die Rolle der Partei im System der Diktatur des Proletariats behandelt oder einfach erwähnt, auch nur eine Andeutung darauf zu finden ist, daß "die Diktatur des Proletariats die Diktatur unserer Partei ist". Im Gegenteil: jede Seite, jede Zeile dieser Werke schlägt dieser Formel ins Gesicht (siehe "Staat und Revolution", "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky", "Die Kinderkrankheit" usw.).
Noch charakteristischer ist es, daß wir in den Thesen des II. Kongresses der Komintern über die Rolle der politischen Partei, die unter der unmittelbaren Leitung Lenins ausgearbeitet wurden und auf die sich Lenin in seinen Reden wiederholt als auf ein Muster für die richtige Formulierung der Rolle und der Aufgaben der Partei berief, kein einziges, buchstäblich kein einziges Wort über die Diktatur der Partei finden.
Was besagt das alles?
Es besagt:
a) daß Lenin die Formel "Diktatur der Partei" nicht für einwandfrei und genau hielt, weshalb sie in den Werken Lenins äußerst selten gebraucht und manchmal in Anführungszeichen gesetzt wird; b) daß Lenin in jenen wenigen Fällen, wo er in der Polemik mit Gegnern gezwungen war, von der Diktatur der Partei zu sprechen, gewöhnlich von der "Diktatur einer Partei", d.h. davon sprach, daß unsere Partei allein an der Macht steht, daß sie die Macht nicht mit anderen Parteien teilt, wobei er stets erläuterte, daß man unter der Diktatur der Partei gegenüber der Arbeiterklasse die Führung durch die Partei, ihre führende Rolle verstehen muß; c) daß Lenin in allen Fällen, wo er es für nötig hielt, die Rolle der Partei im System der Diktatur des Proletariats wissenschaftlich zu definieren, ausschließlich von der führenden Rolle der Partei gegenüber der Arbeiterklasse sprach (und solche Fälle gibt es Tausende); d) daß gerade deshalb Lenin sich nicht "einfallen" ließ, in die grundlegende Resolution über die Rolle der Partei - ich meine die Resolution des II. Kongresses der Komintern - die Formel "Diktatur der Partei" aufzunehmen; e) daß vom Standpunkt des Leninismus diejenigen Genossen nicht im Rechte und politisch kurzsichtig sind, die die "Diktatur" der Partei und folglich auch die "Diktatur der Führer" der Diktatur des Proletariats gleichstellen oder gleichzustellen versuchen, denn sie verletzen dadurch die Bedingungen für die richtigen Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde und Klasse. Ich spreche schon gar nicht davon, daß die Formel "Diktatur der Partei", wenn sie ohne die obenerwähnten Vorbehalte genommen wird, eine ganze Reihe von Gefahren und politischen Nachteilen in unserer praktischen Arbeit hervorrufen kann. Durch diese Formel, ohne Vorbehalte genommen, wird gleichzeitig gesagt:
a) zu den parteilosen Massen: wagt nicht zu widersprechen, wagt nicht zu räsonieren, denn die Partei ist allmächtig, denn wir haben die Diktatur der Partei; b) zu den Parteikadern: handelt kühner, greift fester zu, man braucht gar nicht auf die Stimme der parteilosen Massen zu hören - wir haben die Diktatur der Partei; c) zu den Parteispitzen: man kann sich den Luxus einer gewissen Selbstzufriedenheit erlauben, man kann wohl auch ein wenig überheblich sein, denn wir haben ja die Diktatur der Partei und "folglich" auch die Diktatur der Führer. Auf diese Gefahren hinzuweisen, ist gerade jetzt angebracht, in der Periode des Aufschwungs der politischen Aktivität der Massen, wo die Bereitschaft der Partei, aufmerksam auf die Stimme der Massen zu lauschen, für uns von besonderem Wert ist, wo die Feinfühligkeit gegenüber den Anforderungen der Massen das grundlegende Gebot unserer Partei ist, wo von der Partei besondere Umsicht und besondere Beweglichkeit in der Politik verlangt werden, wo die Gefahr der Selbstüberhebung eine der ernstesten Gefahren ist, vor denen die Partei in der Frage der richtigen Führung der Massen steht.
Man muß an die goldenen Worte Lenins denken, die er auf dem XI. Parteitag unserer Partei gesagt hat:
"In der Volksmasse sind wir (Kommunisten. J. St.) immerhin nur ein Tropfen im Meere, und wir können nur dann regieren, wenn wir das richtig ausdrücken, dessen sich das Volk bewußt ist. Andernfalls wird die kommunistische Partei nicht das Proletariat führen und das Proletariat nicht die Massen führen, und die ganze Maschinerie wird zerfallen." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 9, S. 393.)
"Das richtig ausdrücken, dessen sich das Volk bewußt ist" - das ist gerade jene unerläßliche Bedingung, die der Partei die ehrenvolle Rolle sichert, die grundlegende führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats zu sein.
Kapitel 6
Die Frage des Sozialismus in einem Lande
In der Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" (April 1924, erste Ausgabe) kommen zwei Formulierungen zur Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande vor. Die erste Formulierung lautet:
"Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich, da man annahm, daß zum Siege über die Bourgeoisie eine gemeinsame Aktion der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Jetzt entspricht dieser Standpunkt nicht mehr der Wirklichkeit. Jetzt muß man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die Entwicklung der katastrophalen Widersprüche innerhalb des Imperialismus, die unausweichlich zu Kriegen führen, das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt - alles das macht den Sieg des Proletariats in einzelnen Ländern nicht nur möglich, sondern auch notwendig." (Siehe "Über die Grundlagen des Leninismus".)
Dieser Leitsatz ist völlig richtig und bedarf keines Kommentars. Er ist gegen die Theorie der Sozialdemokraten gerichtet, die die Machtergreifung durch das Proletariat in einem Lande, ohne die gleichzeitige siegreiche Revolution in anderen Ländern, für eine Utopie halten.
Aber die Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" enthält noch eine zweite Formulierung. Es heißt dort:
"Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande aufrichten, heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus zu sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus - die Organisierung der sozialistischen Produktion - steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen, ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder? Nein, das kann man nicht. Zum Sturze der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes - davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Rußland, dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig." (Siehe "Über die Grundlagen des Leninismus", erste Ausgabe.)
Diese zweite Formulierung war gegen die Behauptung der Kritiker des Leninismus, gegen die Trotzkisten gerichtet, die erklärten, die Diktatur des Proletariats in einem Lande könne sich nicht "gegen das konservative Europa behaupten", wenn der Sieg in anderen Ländern ausbleibt.
Insofern - aber nur insofern - war diese Formulierung damals (April 1924) ausreichend, und sie hat zweifellos einen gewissen Dienst geleistet.
In der Folge aber, als die Kritik am Leninismus auf diesem Gebiete in der Partei schon überwunden war und als eine neue Frage auftauchte, die Frage nach der Möglichkeit der Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften unseres Landes, ohne Hilfe von außen, da erwies sich diese zweite Formulierung bereits als offenkundig ungenügend und deshalb unrichtig.
Worin besteht der Mangel dieser Formulierung?
Ihr Mangel besteht darin, daß sie zwei verschiedene Fragen zu einer Frage zusammenzieht: die Frage der Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus mit den Kräften eines Landes, worauf eine bejahende Antwort gegeben werden muß, und die Frage, ob sich ein Land, in dem die Diktatur des Proletariats errichtet ist, als völlig gesichert gegen eine Intervention und folglich gegen die Restauration der alten Ordnung betrachtet werden kann ohne die siegreiche Revolution in einer Reihe anderer Länder, worauf eine verneinende Antwort gegeben werden muß. Ich spreche schon gar nicht davon, daß diese Formulierung zu dem Gedanken Anlaß geben kann, daß die Organisierung der sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften eines Landes unmöglich sei, was natürlich unrichtig ist.
Aus diesem Grunde habe ich diese Formulierung in meiner Schrift "Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten" (Dezember 1924) abgeändert und richtiggestellt, indem ich diese Frage in zwei Fragen zerlegte: in die Frage der vollen Garantie gegen die Restauration der bürgerlichen Zustände und in die Frage der Möglichkeit der Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem Lande. Das wurde erreicht, erstens, durch Auslegung des "vollen Sieges des Sozialismus" als "volle Garantie gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung", die nur durch die "gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder" erreicht werden kann, und zweitens dadurch, daß auf Grund der Leninschen Schrift "Über das Genossenschaftswesen" die unbestreitbare Wahrheit ausgesprochen wurde, daß wir alles Notwendige zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft besitzen ("Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten").
Diese neue Formulierung wurde denn auch der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz "Über die Aufgaben der Komintern und der KPR (B)" zugrunde gelegt, die die Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande in Verbindung mit der Stabilisierung des Kapitalismus behandelt (April 1925) und die Errichtung des Sozialismus mit den Kräften unseres Landes für möglich und notwendig hält.
Sie diente auch als Grundlage für meine Schrift "Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV. Parteikonferenz", die unmittelbar nach der XIV. Parteikonferenz, im Mai 1925, erschien.
Über die Behandlung der Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande wird in dieser Schrift gesagt:
"Unser Land weist zwei Gruppen von Gegensätzen auf. Die eine Gruppe von Gegensätzen - das sind die inneren Gegensätze, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft bestehen (gemeint ist hier die Errichtung des Sozialismus in einem Lande. J. St.). Die andere Gruppe von Gegensätzen - das sind die äußeren Gegensätze, die zwischen unserem Lande, als dem Land des Sozialismus, und allen übrigen Ländern, als den Ländern des Kapitalismus, vorhanden sind (gemeint ist hier der endgültige Sieg des Sozialismus. J. St.) ..."
"Wer die erste Gruppe von Gegensätzen, die durchaus mit den Kräften eines Landes überwunden werden können, mit der zweiten Gruppe von Gegensätzen verwechselt, die zu ihrer Lösung die Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder erfordern, der begeht den gröbsten Fehler gegen den Leninismus, der ist entweder ein Wirrkopf oder ein unverbesserlicher Opportunist." (Siehe "Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV. Parteikonferenz".)
Über die Frage des Sieges des Sozialismus in unserem Lande wird in der Schrift gesagt:
"Wir können den Sozialismus errichten, und wir werden ihn zusammen mit der Bauernschaft, unter der Führung der Arbeiterklasse aufbauen", ... denn "unter der Diktatur des Proletariats sind bei uns ... alle Vorbedingungen gegeben, die notwendig sind, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten, wobei alle und jede inneren Schwierigkeiten überwunden werden, denn wir können und müssen sie durch unsere eigenen Kräfte überwinden." (Ebenda.)
Über die Frage des endgültigen Sieges des Sozialismus heißt es dort:
"Der endgültige Sieg des Sozialismus ist die volle Garantie gegen Interventions- und folglich auch gegen Restaurationsversuche, denn ein einigermaßen ernsthafter Restaurationsversuch kann nur mit ernster Unterstützung von außen, nur mit Unterstützung des internationalen Kapitals erfolgen. Deshalb ist die Unterstützung unserer Revolution durch die Arbeiter aller Länder, und noch mehr der Sieg dieser Arbeiter zum mindesten in einigen Ländern die unerläßliche Vorbedingung für die volle Sicherung des ersten siegreichen Landes gegen Interventions- und Restaurationsversuche, die unerläßliche Vorbedingung für den endgültigen Sieg des Sozialismus." (Ebenda.)
Das ist wohl klar.
Bekanntlich wird diese Frage in meiner Schrift "Fragen und Antworten" (Juni 1925) und in dem politischen Bericht des ZK auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (B) (Dezember 1925) in dem gleichen Sinne behandelt.
Das sind die Tatsachen.
Diese Tatsachen sind, wie ich glaube, allen und jedem bekannt, darunter auch Sinowjew.
Hält es Sinowjew jetzt, fast zwei Jahre nach dem ideologischen Kampfe in der Partei und nach der auf der XIV. Parteikonferenz angenommenen Resolution (April 1925), für möglich, in seinem Schlußwort auf dem XIV. Parteitag (Dezember 1925) die alte, vollständig ungenügende Formel aus Stalins Schrift, die im April 1924 verfaßt wurde, als Grundlage für die Lösung der schon gelösten Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande hervorzuholen, so zeigt diese sonderbare Manier Sinowjews nur, daß er sich in dieser Frage vollständig verwirrt hat.
Die Partei rückwärtszerren, nachdem sie vorwärtsgeschritten ist, die Resolution der XIV. Parteikonferenz umgehen, nachdem sie vom Plenum des ZK bestätigt worden ist, das heißt, sich hoffnungslos in Widersprüche verstricken, an die Sache des Aufbaus des Sozialismus nicht glauben, den Weg Lenins verlassen und die eigene Niederlage dokumentieren.
Was bedeutet die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus einem Lande?
Das bedeutet die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Proletariat und Bauernschaft mit den inneren Kräften unseres Landes zu überwinden, die Möglichkeit, daß das Proletariat die Macht ergreifen und diese Macht zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande ausnutzen kann, gestützt auf die Sympathien und die Unterstützung der Proletarier der anderen Länder, aber ohne vorhergehenden Sieg der proletarischen Revolution in anderen Ländern.
Ohne diese Möglichkeit ist der Aufbau des Sozialismus ein Aufbau ohne Perspektive, ein Aufbau ohne die Überzeugung, daß man den Sozialismus errichten wird. Man kann den Sozialismus nicht aufbauen, wenn man nicht überzeugt ist, daß es möglich ist, ihn zu errichten, wenn man nicht überzeugt ist, daß die technische Rückständigkeit unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft ist. Die Verneinung dieser Möglichkeit bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, Abkehr vom Leninismus.
Was bedeutet die Unmöglichkeit des vollen, endgültigen Sieges des Sozialismus in einem Lande ohne den Sieg der Revolution in anderen Ländern?
Das bedeutet die Unmöglichkeit einer vollen Garantie gegen die Intervention und folglich auch gegen die Restauration der bürgerlichen Ordnung, wenn die Revolution nicht wenigstens in einer Reihe von Ländern gesiegt hat. Die Verneinung dieses unbestreitbaren Leitsatzes bedeutet Abkehr vom Internationalismus, Abkehr vom Leninismus.
"Wir leben", sagt Lenin, "nicht nur in einem Staat, sondern in einem Staatensystem, und die Existenz der Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird entweder das eine oder das andere siegen. Aber bis dieses Ende eintritt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das heißt, daß die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es herrschen will und herrschen wird, dies auch durch seine militärische Organisation beweisen muß." (Lenin, Bericht auf dem VIII. Parteitag, Sämtl. Werke, Bd. XXIV. S. 122 russ.)
"Wir haben", sagt Lenin an anderer Stelle, "ein im höchsten Grade schwankendes, aber immerhin unzweifelhaftes, unbestreitbares gewisses Gleichgewicht vor uns. Ob es von langer Dauer sein wird, weiß ich nicht, und ich glaube, daß man das nicht wissen kann. Und deshalb ist unsererseits die größte Vorsicht am Platze. Und das erste Gebot unserer Politik, die erste Lehre, die sich aus unserer Regierungstätigkeit während eines Jahres ergibt, eine Lehre, die sich alle Arbeiter und Bauern zu eigen machen müssen, ist die: auf der Hut sein, daran denken, daß wir von Leuten, Klassen, Regierungen umgeben sind, die offen den größten Haß gegen uns bekunden. Man muß daran denken, daß wir stets nur um ein Haar von einem Überfall entfernt sind." (Rede Lenins auf dem IX. Allrussischen Sowjetkongreß, Sämtl. Werke, Bd. XXVII, S. 117 russ.)
Das ist wohl klar.
Wie steht es bei Sinowjew bezüglich der Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande?
Man höre:
"Unter dem endgültigen Sieg des Sozialismus ist mindestens zu verstehen: 1. die Aufhebung der Klassen und folglich 2. die Abschaffung der Diktatur einer Klasse, im gegebenen Falle der Diktatur des Proletariats ..." "Um noch genauer klarzustellen", sagt Sinowjew weiter, "wie die Frage bei uns in der UdSSR im Jahre 1925 steht, muß man zweierlei unterscheiden: 1. die gesicherte Möglichkeit, den Sozialismus aufzubauen, ist natürlich auch im Rahmen eines Landes durchaus vorstellbar, und 2. die endgültige Errichtung und Festigung des Sozialismus, das heißt die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, der sozialistischen Gesellschaft."
Was kann das alles bedeuten?
Nichts anderes, als daß Sinowjew unter dem endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht die Garantie gegen Intervention und Restauration versteht, sondern die Möglichkeit der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Unter dem Sieg des Sozialismus in einem Lande aber versteht Sinowjew einen Aufbau des Sozialismus, der nicht zur Errichtung des Sozialismus führen kann und führen soll. Ein Aufbau aufs Geratewohl, ohne Perspektive, ein Aufbau des Sozialismus, bei dem man nicht die Möglichkeit hat, die sozialistische Gesellschaft zu errichten - das ist die Position Sinowjews.
Am Sozialismus bauen, ohne die Möglichkeit zu haben, ihn wirklich aufzubauen, mit dem Bewußtsein bauen, daß man ihn doch nicht aufbauen wird - bis zu solchen Ungereimtheiten hat sich Sinowjew verstiegen.
Aber das ist doch ein Hohn auf die Frage und keine Lösung der Frage!
Noch eine Stelle aus dem Schlußwort Sinowjews auf dem XIV. Parteitag:
"Man sehe nur, wie weit sich z.B. Genosse Jakowljew auf der letzten Kursker Gouvernements-Parteikonferenz verstiegen hat: 'Können wir', fragt er, 'in einem Lande, wo uns von allen Seiten kapitalistische Feinde umgeben, können wir unter solchen Verhältnissen in einem Lande den Sozialismus errichten?' Und er antwortet: 'Auf Grund des Gesagten haben wir das Recht zu behaupten, daß wir nicht nur am Sozialismus bauen, sondern daß wir, obwohl wir einstweilen allein sind, obwohl wir einstweilen das einzige Sowjetland der Welt, der einzige Sowjetstaat sind, den Sozialismus wirklich aufbauen werden.' (Kurskaja Prawda Nr. 279 vom 8. Dezember 1925.) Ist das eine leninistische Fragestellung, riecht das nicht nach nationaler Beschränktheit?"
Somit heißt es nach Sinowjew, auf dem Standpunkte der nationalen Beschränktheit stehen, wenn man die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande anerkennt, und auf dem Standpunkte des Internationalismus stehen, wenn man diese Möglichkeit verneint.
Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus, daß ein solcher Sieg unmöglich ist?
Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft - dahin führt die innere Logik der Argumentation Sinowjews.
Und diese Ungereimtheit, die mit dem Leninismus nichts gemein hat, wird uns von Sinowjew als "Internationalismus", als "hundertprozentiger Leninismus" aufgetischt!
Ich behaupte, daß Sinowjew in der so wichtigen Frage des Aufbaus des Sozialismus sich vom Leninismus abkehrt und zum Standpunkt des Menschewiks Suchanow hinabsinkt.
Wenden wir uns Lenin zu. Lenin sagte über den Sieg des Sozialismus in einem Lande noch vor der Oktoberrevolution, im August 1915:
"Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unabdingbares Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus ursprünglich in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande (von mir hervorgehoben. J. St.) der übrigen, kapitalistischen Welt entgegenstellen und würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in ihnen den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 5, S. 134 / 135.)
Was bedeuten die von uns hervorgehobenen Worte Lenins: "nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande"? Das bedeutet, daß das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische Produktion im eigenen Lande nach der Machtergreifung organisieren kann und muß. Und was bedeutet "die Organisierung der sozialistischen Produktion"? Das bedeutet, die sozialistische Gesellschaft errichten. Es erübrigt sich nachzuweisen, daß diese klare und bestimmte These Lenins keines weiteren Kommentars bedarf. Andernfalls wäre es nicht verständlich, warum Lenin im Oktober 1917 zur Machtergreifung durch das Proletariat aufrief.
Man sieht, daß sich dieser klare Leitsatz Lenins von dem verworrenen und antileninistischen "Leitsatz" Sinowjews, wonach wir am Sozialismus "im Rahmen eines Landes" bauen können, daß es aber unmöglich ist, ihn aufzubauen, unterscheidet wie Himmel und Erde.
Das sagte Lenin im Jahre 1915, vor der Machtergreifung durch das Proletariat. Aber vielleicht haben sich seine Ansichten nach den Erfahrungen der Machtergreifung, nach 1917, geändert? Wenden wir uns der Schrift Lenins "Über das Genossenschaftswesen" zu, die im Jahre 1923 verfaßt wurde.
"In der Tat", sagt Lenin, "die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft uws. - ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, allein aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als Krämerei behandelt haben und die wir in gewisser Hinsicht jetzt, unter der NÖP, genau so zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 9, S. 437.)
Mit anderen Worten: wir können und müssen die vollendete sozialistische Gesellschaft errichten, denn wir haben alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.
Ich glaube, klarer kann man sich kaum ausdrücken.
Man vergleiche diesen klassischen Leitsatz Lenins mit der antileninistischen Erwiderung Sinowjews an Jakowljew, und man wird begreifen, daß Jakowljew nur die Worte Lenins über die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande wiederholt hat, während Sinowjew, der sich gegen diesen Leitsatz wendet und Jakowljew geißelt, von Lenin abgerückt ist und sich auf den Standpunkt des Menschewiks Suchanow gestellt hat, auf den Standpunkt, daß die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande infolge seiner technischen Rückständigkeit unmöglich sei.
Unbekannt bleibt nur, wozu wir denn im Oktober 1917 die Macht ergriffen haben, wenn wir nicht darauf rechneten, den Sozialismus zu errichten?
Man hätte im Oktober 1917 nicht die Macht ergreifen sollen - das ist die Schlußfolgerung, zu der die innere Logik der Argumentation Sinowjews führt.
Ich behaupte ferner, daß Sinowjew in der so wichtigen Frage des Sieges des Sozialismus gegen bestimmte Beschlüsse unserer Partei zu Felde zieht, die in der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz "Über die Aufgaben der Komintern und der KPR (B) im Zusammenhang mit der Erweiterten Plenartagung des EKKI" festgelegt worden sind.
Wenden wir uns dieser Resolution zu. Dort wird über den Sieg des Sozialismus in einem Lande gesagt:
"Das Bestehen zweier diametral entgegengesetzter gesellschaftlicher Systeme ruft die ständige Gefahr der kapitalistischen Blockade, anderer Formen des ökonomischen Druckes, der bewaffneten Intervention und der Restauration hervor. Die einzige Garantie für den endgültigen Sieg des Sozialismus, das heißt die Garantie gegen die Restauration ist folglich die siegreiche sozialistische Revolution in einer Reihe von Ländern ..." "Der Leninismus lehrt, daß der endgültige Sieg des Sozialismus im Sinne der vollen Garantie gegen eine Restauration der bürgerlichen Verhältnisse nur im internationalen Maßstab möglich ist ..." "Daraus folgt keineswegs, daß die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem so rückständigen Lande wie Rußland ohne 'staatliche Hilfe' (Trotzki) der in technischer und ökonomischer Hinsicht entwickelteren Länder unmöglich sei." (Siehe Resolution.)
Man sieht, die Resolution behandelt den endgültigen Sieg des Sozialismus im Sinne der Garantie gegen die Intervention und die Restauration - in vollem Gegensatz zur Auffassung Sinowjews in seinem Buche "Leninismus".
Man sieht, die Resolution erkennt an, daß die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem so rückständigen Lande wie Rußland ohne 'staatliche Hilfe' der in technischer und ökonomischer Hinsicht entwickelteren Länder möglich ist - in vollem Gegensatz zu der gegenteiligen Behauptung Sinowjews in seiner Erwiderung an Jakowljew im Schlußwort auf dem XIV. Parteitag.
Wie soll man das anders nennen als einen Kampf Sinowjews gegen die Resolutionen der XIV. Parteikonferenz?
Freilich sind Parteiresolutionen manchmal nicht ohne Mängel. Es kommt vor, daß Parteiresolutionen Fehler enthalten. Allgemein gesprochen wäre die Annahme zulässig, daß auch die Resolution der XIV. Parteikonferenz einige Fehler enthalte. Es ist möglich, daß Sinowjew diese Resolution für fehlerhaft hält. Dann aber muß man das klar und offen aussprechen, wie es einem Bolschewik ziemt. Das tut jedoch Sinowjew aus irgendeinem Grunde nicht. Er zog es vor, einen anderen Weg zu wählen und die Resolutionen der XIV. Parteikonferenz aus dem Hinterhalt anzugreifen, ohne diese Resolution zu erwähnen und ohne irgendeine offene Kritik an der Resolution zu üben. Sinowjew glaubt offenbar, daß man auf diesem Wege am besten zum Ziele kommt. Sein Ziel aber ist das eine: die Resolution zu "verbessern" und Lenin "ein klein wenig" zu korrigieren. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß Sinowjew sich in seinen Berechnungen getäuscht hat.
Woher kommt der Fehler Sinowjews? Wo steckt die Wurzel dieses Fehlers?
Die Wurzel dieses Fehlers liegt meines Erachtens in der Überzeugung Sinowjews, daß die technische Rückständigkeit unseres Landes ein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft sei, daß das Proletariat infolge der technischen Rückständigkeit unseres Landes den Sozialismus nicht errichten könne. Sinowjew und Kamenew versuchten einmal, mit diesem Argument in einer der Sitzungen des Zentralkomitees der Partei vor der Aprilkonferenz der Partei aufzutreten. Aber sie holten sich eine Abfuhr und waren gezwungen, den Rückzug anzutreten, indem sie sich formell dem entgegengesetzten Standpunkt, dem Standpunkt der Mehrheit des Zentralkomitees, unterordneten. Obwohl sich aber Sinowjew formell diesem Standpunkt untergeordnet hatte, setzte er den Kampf gegen denselben die ganze Zeit fort. Über diesen "Zwischenfall" im ZK der KPdSU (B) sagt das Moskauer Komitee unserer Partei in seiner "Antwort" auf den Brief der Leningrader Gouvernements-Parteikonferenz:
"Noch vor kurzem haben Kamenew und Sinowjew im Politbüro den Standpunkt vertreten, daß wir infolge unserer technischen und ökonomischen Rückständigkeit nicht imstande sein würden, mit den inneren Schwierigkeiten fertig zu werden, es sei denn, daß uns die internationale Revolution rette. Wir aber, zusammen mit der Mehrheit des Zentralkomitees, meinen, daß wir den Sozialismus bauen können, daß wir ihn bauen und den Aufbau zu Ende führen werden, ungeachtet unserer technischen Rückständigkeit und ihr zum Trotz. Wir meinen, daß dieser Aufbau selbstverständlich viel langsamer vor sich gehen wird, als es bei einem Sieg im Weltmaßstabe der Fall wäre, aber dennoch schreiten wir vorwärts und werden vorwärtsschreiten. Ebenso sind wir der Ansicht, daß der Standpunkt Kamenews und Sinowjews den Unglauben an die inneren Kräfte unserer Arbeiterklasse und der ihr folgenden Bauernmassen zum Ausdruck bringt. Wir sind der Ansicht, daß dieser Standpunkt eine Abkehr von der Leninschen Position bedeutet." (Siehe 'Antwort'.)
Dieses Dokument erschien in der Presse während der ersten Sitzungen des XIV. Parteitages. Sinowjew hatte natürlich die Möglichkeit, noch auf dem Parteitag gegen dieses Dokument Stellung zu nehmen. Es ist bezeichnend, daß Sinowjew und Kamenew keine Argumente gegen diese schwere Beschuldigung fanden, die vom Moskauer Komitee unserer Partei gegen sie erhoben wurde. Ist das ein Zufall? Ich glaube, daß es kein Zufall ist. Die Beschuldigung hat offenbar ins Schwarze getroffen. Sinowjew und Kamenew haben auf diese Beschuldigung darum mit Schweigen "geantwortet", weil sie nichts hatten, was sie dagegen ins Treffen führen konnten.
Die neue Opposition ist gekränkt, daß man Sinowjew des Unglaubens an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande beschuldigt. Aber wenn Sinowjew, nachdem die Frage des Sieges des Sozialismus ein einem Lande ein volles Jahr diskutiert wurde, nachdem der Standpunkt Sinowjews vom Politbüro des Zentralkomitees (April 1925) abgelehnt wurde, nachdem sich schon eine bestimmte Meinung der Partei über diese Frage herausgebildet hatte, die in der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz (April 1925) niedergelegt worden ist, wenn Sinowjew sich nach alledem entschließt, in seinem Buch "Leninismus" (September 1925) gegen den Standpunkt der Partei aufzutreten, wenn er dann dieses Auftreten auf dem XIV. Parteitag wiederholt - wie soll man das alles, diese Verstocktheit, diese Hartnäckigkeit bei der Verteidigung seines Fehlers, anders erklären als damit, daß Sinowjew angesteckt, hoffnungslos angesteckt ist mit dem Unglauben an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande?
Sinowjew beliebt, diesen seinen Unglauben als Internationalismus hinzustellen. Aber seit wann wird bei uns die Abkehr vom Leninismus in der Kardinalfrage des Leninismus als Internationalismus hingestellt?
Wird es nicht richtiger sein zu sagen, daß nicht die Partei, sondern Sinowjew sich hier gegen den Internationalismus und die internationale Revolution versündigt? Denn was ist unser Land, das Land "des Sozialismus im Aufbau", anderes als die Basis der Weltrevolution? Kann es aber die wirkliche Basis der Weltrevolution sein, wenn es nicht fähig ist, die sozialistische Gesellschaft zu errichten? Kann es das gewaltige Anziehungszentrum für die Arbeiter aller Länder, das es jetzt zweifellos ist, bleiben, wenn es unfähig ist, im eigenen Lande den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft, den Sieg des sozialistischen Aufbaus zu erringen? Ich glaube, nein. Folgt aber daraus nicht, daß der Unglaube an den Sieg des sozialistischen Aufbaus, die Propagierung dieses Unglaubens zur Diskreditierung unseres Landes als der Basis der Weltrevolution führt, die Diskreditierung unseres Landes führt aber zur Schwächung der revolutionären Weltbewegung.
Wodurch suchten die Herren Sozialdemokraten die Arbeiter von uns abzuschrecken? Durch die Propaganda, daß "bei den Russen nichts herauskommen wird". Womit schlagen wir jetzt die Sozialdemokraten, indem ganze Scharen von Arbeiterdelegationen zu uns strömen und dadurch die Positionen des Kommunismus in der ganzen Welt gestärkt werden? Mit unseren Erfolgen beim Aufbau des Sozialismus. Ist es aber nunmehr nicht klar, daß derjenige, der den Unglauben an unsere Erfolge beim Aufbau des Sozialismus propagiert, indirekt den Sozialdemokraten hilft, die Schwungkraft der internationalen revolutionären Bewegung schwächt und sich unvermeidlich vom Internationalismus abwendet? ...
Man sieht, daß es mit dem "Internationalismus" Sinowjews durchaus nicht besser bestellt ist als mit seinem "hundertprozentigen Leninismus" in der Frage des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande.
Deshalb hat der XIV. Parteitag richtig gehandelt, als er die Ansichten der neuen Opposition als "Unglauben an den Aufbau des Sozialismus" und als "Entstellung des Leninismus" kennzeichnete.
Kapitel 7
Der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus
Ich denke, daß der Unglaube an den Sieg des sozialistischen Aufbaus der Hauptfehler der neuen Opposition ist. Dieser Fehler ist meines Erachtens deshalb der Hauptfehler, weil sich aus ihm alle übrigen Fehler der neuen Opposition ergeben. Die Fehler der neuen Opposition in der Frage der NÖP, des Staatskapitalismus, der Natur unserer sozialistischen Industrie, der Rolle der Genossenschaften unter der Diktatur des Proletariats, der Methoden des Kampfes gegen das Kulakentum, der Rolle und Bedeutung der Mittelbauernschaft - alle diese Fehler folgen aus dem Hauptfehler der Opposition, dem Unglauben an die Möglichkeiten der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften unseres Landes.
Was ist der Unglaube an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande?
Das ist vor allem die mangelnde Überzeugung, daß die Hauptmassen der Bauernschaft, infolge bestimmter Entwicklungsbedingungen unseres Landes, in das Werk des sozialistischen Aufbaus EINBEZOGEN WERDEN KÖNNEN.
Das ist zweitens die mangelnde Überzeugung, daß das Proletariat unseres Landes, das die Kommandohöhen der Volkswirtschaft innehat, FÄHIG ist, die Hauptmassen der Bauernschaft in das Werk des sozialistischen Aufbaus einzubeziehen.
Von diesen Voraussetzungen geht die Opposition in ihren Entwürfen über die Wege unserer Entwicklung stillschweigend aus - einerlei, ob sie das bewußt oder unbewußt tut.
Kann man die Hauptmasse der Sowjetbauernschaft in das Werk des sozialistischen Aufbaus einbeziehen?
In der Schrift "Über die Grundlagen des Leninismus" sind diesbezüglich zwei grundlegende Leitsätze enthalten:
"Man darf die Bauernschaft der Sowjetunion nicht mit der Bauernschaft des Westens verwechseln. Eine Bauernschaft, die durch die Schule dreier Revolutionen gegangen ist, die gegen den Zaren und die bürgerliche Macht zusammen mit dem Proletariat und mit dem Proletariat an der Spitze gekämpft hat, eine Bauernschaft, die Land und Frieden aus der Hand der proletarischen Revolution erhalten hat und infolgedessen zur Reserve des Proletariats geworden ist - eine solche Bauernschaft muß sich von derjenigen Bauernschaft unterscheiden, die während der bürgerlichen Revolution unter der Führung der liberalen Bourgeoisie gekämpft hat, die den Grund und Boden aus der Hand dieser Bourgeoisie erhalten hat und infolgedessen zur Reserve der Bourgeoisie geworden ist. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß die Sowjetbauernschaft, die die politische Freundschaft und die POLITISCHE Zusammenarbeit mit dem Proletariat schätzen gelernt hat und die dieser Freundschaft und dieser Zusammenarbeit ihre Freiheit verdankt, für die ÖKONOMISCHE Zusammenarbeit mit dem Proletariat ganz besonders geeignet sein muß." "Man darf die Landwirtschaft Rußlands nicht mit der Landwirtschaft des Westens verwechseln. Dort vollzieht sich die Entwicklung der Landwirtschaft in den gewöhnlichen Bahnen des Kapitalismus, unter den Verhältnissen einer tiefgehenden Differenzierung der Bauernschaft, mit großen Gütern und privatkapitalistischen Latifundien auf dem einen Pol und mit Pauperismus, Elend und Lohnsklaverei auf dem anderen. Dort sind infolgedessen Zerfall und Zersetzung ganz natürlich. Anders in Rußland. Bei uns kann die Entwicklung der Landwirtschaft schon deswegen nicht diesen Weg gehen, weil das Bestehen der Sowjetmacht und die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsmittel und -instrumente eine solche Entwicklung nicht zulassen. In Rußland muß die Entwicklung der Landwirtschaft einen anderen Weg gehen, den Weg der genossenschaftlichen Organisierung der Millionen Klein- und Mittelbauern, den Weg der Entwicklung von Massengenossenschaften auf dem Lande, die vom Staat durch Gewährung von Vorzugskrediten unterstützt werden. Lenin hat in seinen Artikeln über das Genossenschaftswesen treffend darauf hingewiesen, daß die Entwicklung der Landwirtschaft bei uns einen neuen Weg gehen muß, den Weg der Einbeziehung der Mehrheit der Bauern in den sozialistischen Aufbau durch die Genossenschaft, den Weg der allmählichen Durchdringung der Landwirtschaft mit den Prinzipien des Kollektivismus, zuerst auf dem Gebiete des Absatzes und dann auf dem Gebiete der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse ... Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß die gewaltige Mehrheit der Bauernschaft gern diesen neuen Entwicklungsweg beschreiten und den Weg der privatkapitalistischen Latifundien und der Lohnsklaverei, den Weg des Elends und des Ruins verschmähen wird." Sind diese Leitsätze richtig?
Ich glaube, diese beiden Leitsätze sind richtig und unbestreitbar für unsere gesamte Aufbauperiode unter den Bedingungen der NÖP.
Sie sind nur der Ausdruck der bekannten Thesen Lenins über den Zusammenschluß des Proletariats und der Bauernschaft, über die Einbeziehung der Bauernwirtschaften in das System der sozialistischen Entwicklung des Landes, darüber, daß das Proletariat zusammen mit den Hauptmassen der Bauernschaft zum Sozialismus fortschreiten muß, daß die genossenschaftliche Organisierung der Millionenmassen der Bauernschaft die breite Heerstraße des sozialistischen Aufbaus im Dorfe ist, daß beim Wachstum unserer sozialistischen Industrie "das einfache Wachstum der Genossenschaften für uns identisch ist mit dem Wachstum des Sozialismus". (Lenin, Ausgewählte Werkek, Bd. 9, S. 442/443.)
In der Tat, welchen Weg kann und soll die Entwicklung der Bauernwirtschaft in unserem Lande gehen?
Die Bauernwirtschaft ist keine kapitalistische Wirtschaft. Die Bauernwirtschaft ist, wenn wir die erdrückende Mehrzahl der Bauernwirtschaften in Betracht ziehen, eine kleine Warenwirtschaft. Was aber ist eine kleine bäuerliche Warenwirtschaft? Das ist eine Wirtschaft, die am Scheidewege zwischen Kapitalismus und Sozialismus steht. Sie kann sich sowohl in der Richtung zum Kapitalismus entwickeln, wie das jetzt in den kapitalistischen Ländern geschieht, als auch in der Richtung zum Sozialismus, wie das bei uns, in unserem Lande, unter der Diktatur des Proletariats der Fall sein muß.
Woher kommt diese Unbeständigkeit, diese Unselbständigkeit der Bauernwirtschaft? Wodurch ist sie zu erklären?
Sie ist zu erklären durch die Zersplitterung der Bauernwirtschaften, durch ihre Unorganisiertheit, ihre Abhängigkeit von der Stadt, von der Industrie, vom Kreditsystem, vom Charakter der Staatsmacht im Lande, schließlich durch den allgemein bekannten Umstand, daß das Dorf sowohl in materieller als auch in kultureller Hinsicht der Stadt folgt und folgen muß.
Der kapitalistische Entwicklungsweg der Bauernwirtschaft bedeutet eine Entwicklung mit tiefgehender Differenzierung der Bauernschaft, mit großen Latifundien auf dem einen Pol und Massenverelendung auf dem anderen Pol. Dieser Entwicklungsweg ist in den kapitalistischen Ländern unvermeidlich, weil das Dorf, die Bauernwirtschaft, von der Stadt, von der Industrie, vom konzentrierten Kredit der Stadt, vom Charakter der Staatsmacht abhängt, in der Stadt aber die Bourgeoisie, die kapitalistische Industrie, das kapitalistische Kreditsystem, die kapitalistische Staatsmacht herrscht.
Ist dieser Entwicklungsweg der Bauernwirtschaften auch in unserem Lande obligatorisch, wo die Stadt ein völlig anderes Aussehen hat, wo die Industrie sich in der Hand des Proletariats befindet, wo das Verkehrswesen, das Kreditsystem, die Staatsmacht usw. in der Hand des Proletariats konzentriert sind, wo die Nationalisierung des Bodens ein allgemeines Gesetz im Lande ist? Natürlich nicht. Im Gegenteil. Gerade weil die Stadt der Führer des Dorfes ist und bei uns in der Stadt das Proletariat herrscht, das alle Kommandohöhen der Volkswirtschaft innehat, gerade deswegen müssen die Bauernwirtschaften in ihrer Entwicklung einen anderen Weg gehen, den Weg des sozialistischen Aufbaus.
Was ist das für ein Weg?
Das ist der Weg der genossenschaftlichen Massenorganisierung der Millionen Bauernwirtschaften in Genossenschaften aller Art, der Weg der Vereinigung der zersplitterten Bauernwirtschaften um die sozialistische Industrie, der Weg der Verbreitung der Grundlagen des Kollektivismus unter der Bauernschaft - zuerst auf dem Gebiete des ABSATZES der Erzeugnisse der Landwirtschaft und der VERSORGUNG der Bauernwirtschaften mit den Erzeugnissen der Stadt, späterhin aber auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen PRODUKTION.
Und je weiter, desto mehr wird dieser Weg unter den Verhältnissen der Diktatur des Proletariats unvermeidlich, denn die genossenschaftliche Organisierung des Absatzes, die genossenschaftliche Organisierung der Versorgung und schließlich die genossenschaftliche Organisierung des Kredits und der Produktion (landwirtschaftliche Genossenschaften) ist der einzige Weg zur Hebung des Wohlstands im Dorfe, das einzige Mittel zur Rettung der breiten Bauernmassen vor Elend und Ruin.
Man sagt, daß die Bauernschaft bei uns ihrer Lage nach nicht sozialistisch, und daher einer sozialistischen Entwicklung unfähig sei. Es ist natürlich richtig, daß die Bauernschaft iher Lage nach nicht sozialistisch ist. Doch ist das kein Argument gegen die Entwicklung der Bauernwirtschaften in der Richtung zum Sozialismus, sobald erwiesen ist, daß das Dorf der Stadt folgt, in der Stadt aber die sozialistische Industrie herrscht. Während der Oktoberrevolution war die Bauernschaft ihrer Lage nach auch nicht sozialistisch, und sie wollte keineswegs den Sozialismus im Lande errichten. Sie wollte damals hauptsächlich die Beseitigung der Macht der Gutsbesitzer und die Beendigung des Krieges, sie wollte den Frieden. Nichtsdestoweniger folgte sie damals dem sozialistischen Proletariat. Warum? Weil der Sturz der Bourgeoisie und die Machtergreifung durch das sozialistische Proletariat damals der einzige Ausweg aus dem imperialistischen Kriege, der einzige Weg zum Frieden war. Weil es damals keine anderen Wege gab und geben konnte. Weil es unserer Partei damals gelungen war, herauszufühlen und herauszufinden, bis zu welchem Grad die Vereinigung und die Unterordnung der spezifischen Interessen der Bauernschaft (Sturz der Gutsbesitzer, Frieden) unter die allgemeinen Interessen des Landes (Diktatur des Proletariats) für die Bauernschaft annehmbar und vorteilhaft war. Und die Bauernschaft ist damals, obwohl sie nicht sozialistisch war, dem sozialistischen Proletariat gefolgt.
Das gleiche muß man vom sozialistischen Aufbau in unserem Lande, von der Einbeziehung der Bauernschaft in den Strom dieses Aufbaus sagen. Die Bauernschaft ist iherer Lage nach nicht sozialistisch. Aber sie muß und wird unbedingt den Weg der sozialistischen Entwicklung beschreiten, denn für die Bauernschaft gibt es und kann es keine anderen Wege geben, um sich vor Elend und Ruin zu retten, als den Zusammenschluß mit dem Proletariat, als den Zusammenschluß mit der sozialistischen Industrie, als die Einbeziehung der Bauernwirtschaft in den allgemeinen Strom der sozialistischen Entwicklung durch die genossenschaftliche Massenorganisierung der Bauernschaft.
Warum gerade durch die genossenschaftliche Massenorganisierung der Bauernschaft?
Weil wir in der genossenschaftlichen Massenorganisierung "jenen Grad der Vereinigung der Privatinteressen, der privaten Handelsinteressen, ihrer Überwachung und Kontrolle durch den Staat, den Grad ihrer Unterordnung unter die allgemeinen Interessen" (Lenin) gefunden haben, der für die Bauernschaft annehmbar und vorteilhaft ist und dem Proletariat die Möglichkeit sichert, die Hauptmasse der Bauernschaft in das Werk des sozialistischen Aufbaus einzubeziehen. Gerade weil es für die Bauernschaft vorteilhaft ist, den Absatz ihrer Waren und die Versorgung ihrer Wirtschaft mit Maschinen durch Genossenschaften zu organisieren, gerade darum muß und wird sie den Weg der genossenschaftlichen Massenorganisierung beschreiten.
Was bedeutet aber die genossenschaftliche Massenorganisierung der Bauernwirtschaften beim Vorherrschen einer sozialistischen Industrie?
Sie bedeutet die ABKEHR der bäuerlichen kleinen Warenwirtschaften von dem alten, dem kapitalistischen Weg, der die Bauernschaft zum Massenruin zu führen droht, und den Übergang auf einen neuen Entwicklungsweg, auf den Weg des sozialistischen Aufbaus.
Darum ist der Kampf für einen neuen Entwicklungsweg der Bauernschaft, der Kampf für die Einbeziehung der Hauptmasse der Bauernschaft in das Werk des Aufbaus des Sozialismus die nächste Aufgabe unserer Partei.
Der XIV. Parteitag der KpdSU (B) hat deshalb richtig gehandelt, als er beschloß:
"Der Hauptweg des Aufbaus des Sozialismus auf dem Lande besteht darin, bei zunehmender ökonomischer Führung seitens der sozialistischen staatlichen Industrie, der staatlichen Kreditinstitutionen und anderer in der Hand des Proletariats befindlicher Kommandohöhen die Hauptmasse der Bauernschaft in die genossenschaftliche Organisation einzubeziehen und dieser Organisation eine sozialistische Entwicklung zu sichern, wobei deren kapitalistische Elemente ausgenutzt, überwunden und verdrängt werden müssen."(Siehe Resolution des Parteitags zum Bericht des Zentralkomitees.)
Der größte Fehler der neuen Opposition besteht darin, daß sie an diesen neuen Entwicklungsweg der Bauernschaft nicht glaubt, die Unvermeidlichkeit dieses Weges unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats nicht sieht oder nicht begreift. Und zwar begreift sie dies deshalb nicht, weil sie nicht an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande glaubt, nicht an die Fähigkeit unseres Proletariats glaubt, die Bauernschaft den Weg des Sozialismus zu führen.
Daher das Unverständnis für den zwiespältigen Charakter der NÖP, die Überschätzung der negativen Seiten der NÖP und die Auffassung, daß die NÖP vorwiegend ein Rückzug sei.
Daher die Überschätzung der Rolle, die die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft spielen, und die Unterschätzung der Rolle, die den Hebeln unserer sozialistischen Entwicklung (sozialistische Industrie, Kreditsystem, Genossenschaften, Staatsmacht des Proletariats usw.) zukommt.
Daher das Unverständnis für die sozialistische Natur unserer staatlichen Industrie und die Zweifel an der Richtigkeit des Leninschen Genossenschaftsplans.
Daher die Überschätzung der Differenzierung im Dorfe, die Panik vor dem Kulaken, die Unterschätzung der Rolle des Mittelbauern, die Versuche, die Politik der Partei zur Sicherung des festen Bündnisses mit dem Mittelbauern zu vereiteln, und überhaupt das Hin- und Herpendeln in der Frage der Politik der Partei auf dem Lande.
Daher das Unverständnis für die so gewaltige Arbeit der Partei zur Einbeziehung der Millionenmassen der Arbeiter und Bauern in den Aufbau der Industrie und Landwirtschaft, in die Belebung der Genossenschaften und der Sowjets, in die Verwaltung des Landes, in den Kampf gegen den Bürokratismus, in den Kampf für die Verbesserung und Umgestaltung unseres Staatsapparates, ein Kampf, der eine neue Entwicklungsphase bezeichnet und ohne den kein sozialistischer Aufbau denkbar ist.
Daher die Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit gegenüber den Schwierigkeiten unseres Aufbaus, die Zweifel an der Möglichkeit der Industrialisierung unseres Landes, das pessimistische Geschwätz über die Entartung der Partei usw.
Bei ihnen, bei den Bourgeois, sei alles mehr oder minder gut, bei uns aber, bei den Proletariern, mehr oder minder schlecht; wenn vom Westen nicht rechtzeitig die Revolution kommt, so sei unsere Sache verloren - das ist der allgemeine Ton der neuen Opposition, der meines Erachtens ein liquidatorischer Ton ist, aber von der Opposition aus irgendeinem Grunde (wohl spaßeshalber) für "Internationalismus" ausgegeben wird.
Die NÖP sei Kapitalismus, sagt die Opposition. Die NÖP sei vorwiegend ein Rückzug, sagt Sinowjew. Das alles ist natürlich falsch. In Wirklichkeit ist die NÖP eine Politik der Partei, die den Kampf der sozialistischen und der kapitalistischen Elemente zuläßt und auf den Sieg der sozialistischen Elemente über die kapitalistischen Elemente abzielt. In Wirklichkeit hatte die NÖP bloß mit einem Rückzug begonnen, sie zielt aber darauf ab, im Verlaufe des Rückzugs eine Umgruppierung der Kräfte vorzunehmen und die Offensive zu ergreifen. In Wirklichkeit führen wir schon seit mehreren Jahren eine Offensive, führen sie mit Erfolg, indem wir unsere Industrie entwickeln, den Sowjethandel entfalten und das Privatkapital zurückdrängen.
Was ist aber der Sinn der These: die NÖP ist Kapitalismus, die NÖP ist vorwiegend ein Rückzug? Wovon geht diese These aus?
Sie geht von der falschen Annahme aus, daß bei uns gegenwärtig eine einfache Wiederherstellung des Kapitalismus, eine einfache "Rückkehr" des Kapitalismus stattfinde. Nur durch diese Annahme kann man die Zweifel der Opposition über die sozialistische Natur unserer Industrie erklären. Nur durch diese Annahme kann man die Panik der Opposition vor dem Kulaken erklären. Nur durch diese Annahme kann man die Voreiligkeit erklären, mit der die Opposition die falschen Zahlen über die Differenzierung der Bauernschaft aufgriff. Nur durch diese Annahme kann man die besondere Vergeßlichkeit der Opposition gegenüber der Tatsache erklären, daß der Mittelbauer bei uns die zentrale Figur der Landwirtschaft ist. Nur durch diese Annahme kann man die Unterschätzung der Bedeutung des Mittelbauern und die Zweifel über Lenins Genossenschaftsplan erklären. Nur durch diese Annahme kann man den Unglauben der neuen Opposition an den Entwicklungsweg des Dorfes, an den Weg der Einbeziehung des Dorfes in den sozialistischen Aufbau "begründen".
In Wirklichkeit vollzieht sich bei uns jetzt nicht der einseitige Prozeß der Wiederherstellung des Kapitalismus, sondern der doppelseitige Prozeß der Entwicklung des Kapitalismus und der Entwicklung des Sozialismus, der widerspruchsvolle Prozeß des Kampfes der sozialistischen Elemente gegen die kapitalistischen Elemente, der Prozeß der Überwindung der kapitalistischen Elemente durch die sozialistischen Elemente. Dies ist gleichermaßen unbestreitbar für die Stadt, wo die staatliche Industrie die Basis für den Sozialismus ist, wie für das Dorf, wo die mit der sozialistischen Industrie eng verbundene Massengenossenschaft den grundlegenden Anknüpfungspunkt der sozialistischen Entwicklung bildet.
Die einfache Wiederherstellung des Kapitalismus ist schon deswegen unmöglich, weil bei uns die Staatsmacht proletarisch ist, die Großindustrie sich in der Hand des Proletariats befindet und der proletarische Staat über das Verkehrs- und Kreditwesen verfügt.
Die Differenzierung kann nicht die früheren Dimensionen annehmen, der Mittelbauer bleibt die Hauptmasse der Bauernschaft, der Kulak aber kann schon allein deswegen nicht die frühere Stärke erlangen, weil der Grund und Boden bei uns nationalisiert ist, nicht gekauft und verkauft werden kann, und weil unsere Handels-, Kredit-, Steuer- und Genossenschaftspolitik darauf gerichtet ist, die Ausbeutertendenzen des Kulakentums einzuschränken, den Wohlstand der breitesten Massen der Bauernschaft zu heben und die Extreme im Dorf auszugleichen. Ich spreche schon gar nicht davon, daß der Kampf gegen das Kulakentum bei uns jetzt nicht nur auf der alten Linie vor sich geht, auf der Linie der Organisierung der Dorfarmut gegen das Kulakentum, sondern auch auf einer neuen Linie, auf der Linie der Festigung des Bündnisses des Proletariats und der Dorfarmut mit den Massen der Mittelbauernschaft gegen den Kulaken. Die Tatsache, daß die Opposition Sinn und Bedeutung des Kampfes gegen das Kulakentum auf dieser zweiten Linie nicht versteht, diese Tatsache bestätigt ein übriges Mal, daß die Opposition auf den alten Entwicklungsweg des Dorfes abweicht, auf den Weg seiner kapitalistischen Entwicklung, unter welcher der Kulak und die Dorfarmut die Hauptkräfte des Dorfes bildeten, der Mittelbauer aber "weggespült" wurde.
Die Genossenschaften seien eine Abart des "Staatskapitalismus", sagt die Opposition unter Berufung auf Lenins Schrift "Die Naturalsteuer" und glaubt deswegen nicht an die Möglichkeit, die Genossenschaften als grundlegenden Anknüpfungspunkt für die sozialistische Entwicklung ausnützen zu können. Die Opposition begeht auch hier einen überaus groben Fehler. Diese Auffassung von den Genossenschaften war genügend und befriedigend im Jahre 1921, als die Schrift "Die Naturalsteuer" verfaßt wurde, als wir keine entwickelte sozialistische Industrie hatten, als Lenin an den Staatskapitalismus als die mögliche Grundform unserer Wirtschaft dachte und die Genossenschaften in Gemeinschaft mit dem Staatskapitalismus betrachtete. Aber diese Auffassung genügt jetzt schon nicht mehr und ist von der Geschichte überholt, denn seither haben sich die Zeiten geändert, die sozialistische Industrie hat sich bei uns entwickelt, der Staatskapitalismus hat nicht in dem Maße, wie es wünschenswert war, Fuß gefaßt, die Genossenschaften aber, die jetzt über zehn Millionen Mitglieder umfassen, haben begonnen, sich mit der sozialistischen Industrie eng zu verbinden.
Wie ließe sich anders die Tatsache erklären, daß Lenin bereits zwei Jahre nach dem Erscheinen der Schrift "Die Naturalsteuer", im Jahre 1923, die Genossenschaften auf andere Art zu betrachten begann und meinte, daß "die Genossenschaften unter unseren Verhältnissen sich in der Regel völlig mit dem Sozialismus decken"? (Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. 9, S. 442.)
Wie ließe sich das anders erklären als dadurch, daß die sozialistische Industrie während dieser zwei Jahre bereits emporzuwachsen vermochte, der Staatskapitalismus dagegen nicht in gebührendem Maße Fuß gefaßt hat, weswegen Lenin die Genossenschaften schon nicht mehr in Gemeinschaft mit dem Staatskapitalismus, sondern in Gemeinschaft mit der sozialistischen Industrie zu betrachten begann?
Die Entwicklungsbedingungen der Genossenschaften hatten sich verändert. Auch die Behandlung der Frage des Genossenschaftswesens mußte sich ändern.
Da haben wir z.B. eine ausgezeichnete Stelle aus Lenins Schrift "Über das Genossenschaftswesen" (1923), die Licht in diese Frage bringt:
"UNTER DEM STAATSKAPITALISMUS (1) unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von staatskapitalistischen dadurch, daß sie erstens private, zweitens kollektive Betriebe sind. IN DER BEI UNS BESTEHENDEN GESELLSCHAFTSORDNUNG (1) unterscheiden sich genossenschaftliche Betriebe von privatkapitalistischen als kollektive Betriebe, aber SIE UNTERSCHEIDEN SICH NICHT (1) von sozialistischen Betrieben, wenn sie auf dem Grund und Boden gegründet und mit Produktionsmitteln ausgerüstet sind, die dem Staat, d.h. der Arbeiterklasse gehören." (Ebenda, S. 441/ 442.)
In diesem kleinen Zitat sind zwei große Fragen gelöst. Erstens, daß "die bei uns bestehende Gesellschaftsordnung" kein Staatskapitalismus ist. Zweitens, daß genossenschaftliche Betriebe, in Gemeinschaft mit "unserer Gesellschaftsordnung" genommen, sich von sozialistischen Betrieben "nicht unterscheiden".
Ich glaube, man könnte sich nicht deutlicher ausdrücken.
Und nun noch eine Stelle aus derselben Schrift Lenins:
"Das einfache Wachstum der Genossenschaften ist für uns (mit der obenerwähnten kleinen' Ausnahme) identisch mit dem Wachstum des Sozialismus, und zugleich damit müssen wir eine grundlegende Änderung unserer ganzen Auffassung vom Sozialismus zugeben." (Ebenda S. 442 / 443.) (2)
Es ist offenkundig, daß wir es in der Schrift "Über das Genossenschaftswesen" mit einer neuen Einschätzung der Genossenschaften zu tun haben, was die neue Opposition nicht zugeben will und was sie sorgfältig verschweigt, den Tatsachen zum Trotz, der offenkundigen Wahrheit zum Trotz, dem Leninismus zum Trotz.
Die Genossenschaften in Gemeinschaft mit dem Staatskapitalismus und die Genossenschaften in Gemeinschaft mit der sozialistischen Industrie sind zwei verschiedene Dinge.
Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß zwischen den Schriften "Die Naturalsteuer" und "Über das Genossenschaftswesen" ein Abgrund liege. Das wäre natürlich falsch. Es genügt z.B. folgende Stelle aus der Schrift "Die Naturalsteuer" anzuführen, um sogleich die untrennbare Verbindung zwischen den Schriften "Die Naturalsteuer" und "Über das Genossenschaftswesen" in der Einschätzung der Genossenschaften festzustellen. Diese Stelle lautet:
"Der Übergang von den Konzessionen zum Sozialismus bedeutet den Übergang von einer Form der Großproduktion zu einer anderen Form der Großproduktion. Der Übergang von den Genossenschaften der Kleinbesitzer zum Sozialismus ist der Übergang von der Kleinproduktion zur Großproduktion, d.h. ein komplizierter Übergang, der aber dafür im Falle des Gelingens geeignet ist, breitere Massen der Bevölkerung zu erfassen, geeignet ist, die tieferen und zäheren Wurzeln der alten, VORSOZIALISTISCHEN (1), ja selbst vorkapitalistischen Verhältnisse auszureißen, die im Sinne des Widerstandes gegen jede Neuerung' am zählebigsten sind." (Lenin, sämtliche Werke, Bd. XXVI, S. 421.)
Aus diesem Zitat ist ersichtlich, daß Lenin bereits zur Zeit der "Naturalsteuer", als es bei uns noch keine entwickelte sozialistische Industrie gab, es für möglich hielt, die Genossenschaften IM FALLE DES GELINGENS in ein mächtiges Kampfmittel gegen die "vorsozialistischen" und folglich auch gegen die KAPITALISTISCHEN VERHÄLTNISSE zu verwandeln. Ich glaube, daß es gerade dieser Gedanke war, der ihm in der Folge als Ausgangspunkt für seine Schrift "Über das Genossenschaftswesen" diente.
Was aber folgt aus alledem?
Daraus folgt, daß die neue Opposition an die Genossenschaftsfrage nicht marxistisch, sondern metaphysisch herangeht. Sie betrachtet die Genossenschaften nicht als historische Erscheinung, die in Gemeinschaft mit anderen Erscheinungen genommen wird, sagen wir, in Gemeinschaft mit dem Staatskapitalismus (im Jahre 1921) oder mit der sozialistischen Industrie (im Jahre 1923), sondern als etwas Feststehendes und ein für allemal Gegebenes, als "Ding an sich".
Daher die Fehler der Opposition in der Genossenschaftsfrage, daher ihr Unglaube an die Entwicklung des Dorfes zum Sozialismus mit Hilfe der Genossenschaft, daher das Abschwenken der Opposition auf den alten Weg, auf den Weg der kapitalistischen Entwicklung des Dorfes.
Das ist im allgemeinen die Stellung der neuen Opposition in den praktischen Fragen des sozialistischen Aufbaus.
Die Schlußfolgerung hieraus ist die eine: die Linie der Opposition, soweit sie eine Linie hat, die Schwankungen der Opposition, ihr Unglaube und ihre Ratlosigkeit gegenüber den Schwierigkeiten führen zur Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft. Denn, wenn die NÖP vorwiegend ein Rückzug ist, wenn die sozialistische Natur der staatlichen Industrie angezweifelt wird, wenn der Kulak nahezu allmächtig ist, wenn auf die Genossenschaften wenig zu hoffen ist, die Rolle des Mittelbauern fortschreitend geringer wird, der neue Entwicklungsweg des Dorfes zweifelhaft ist, die Partei fast entartet, die Revolution vom Westen aber noch nicht so nahe ist, was bleibt nach alledem im Arsenal der Opposition übrig, worauf rechnet sie im Kampfe gegen die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft? Man kann doch nicht allein mit der "Philosophie der Epoche" in den Kampf ziehen.
Es ist klar, daß das Arsenal der neuen Opposition kein beneidenswertes ist, wenn man es überhaupt ein Arsenal nennen kann. Das ist kein Arsenal für den Kampf. Noch weniger für den Sieg.
Es ist klar, daß sich die Partei mit einem solchen Arsenal "Hals über Kopf" ins Verderben stürzen würde, wenn sie sich in einen Kampf einließe, - sie würde einfach vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft kapitulieren müssen.
Darum hat der XIV. Parteitag völlig richtig gehandelt, als er in seinem Beschluß erklärte,
daß "der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion die grundlegende Aufgabe unserer Partei ist"; daß eine der unerläßlichen Bedingungen zur Lösung dieser Aufgabe "der Kampf gegen den Unglauben an den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande ist sowie gegen die Versuche, unsere Betriebe, die Betriebe von konsequent-sozialistischen Typus' (Lenin) sind, als staatskapitalistische' Betriebe hinzustellen"; daß "ideologische Strömungen, die ein bewußtes Verhalten der Massen zum Aufbau des Sozialismus im allgemeinen und der sozialistischen Industrie im besonderen unmöglich machen, nur geeignet sind, das Wachstum der sozialistischen Elemente der Wirtschaft zu hemmen und ihre Bekämpfung durch das Privatkapital zu erleichtern"; daß "der Parteitag deshalb eine umfassende Erziehungsarbeit zur Überwindung dieser Entstellungen des Leninismus für notwendig hält". (Siehe Resolution zum Bericht des ZK der KPdSU (B).) Die historische Bedeutung des XIV. Parteitags der KPdSU (B) besteht darin, daß er es verstand, die Fehler der neuen Opposition bis auf die Wurzeln aufzudecken, daß er ihren Unglauben und ihr Flennen völlig unbeachtet ließ, klar und deutlich den Weg des weiteren Kampfes für den Sozialismus vorzeichnete, der Partei die Perspektive des Sieges gab und damit das Proletariat mit dem unerschütterlichen Glauben an den Sieg des sozialistischen Aufbaus ausgerüstet hat.
25. Januar 1926
Fußnoten:
1. Von mir hervorgehoben, J. St.
2. Lenin, Werke-Ausgabe, Dietz-Verlag Berlin, Band 33, Seite 453 ff.